“Dobar dan! Zovem se Vreni” – Herkunftssprachen und deren Stellenwert im Klassenzimmer

In den wenigsten Klassenzimmern sprechen alle Kinder und Jugendlichen die Schulsprache als Erstsprache. Je nach Schulort sind neben der Schulsprache unzählige andere Erstsprachen wie zum Beispiel Albanisch, Spanisch oder Türkisch anzutreffen. Viele Lehrpersonen sehen sich deshalb tagtäglich mit folgenden Fragen konfrontiert: Sollen sie die Herkunftssprachen (d.h. diejenigen Sprachen, welche zu Hause gesprochen werden und nicht der Schulsprache entsprechen) in den (Fremdsprachen-) Unterricht integrieren? Wenn ja, wie und in welchem Ausmass? Was wünschen sich mehrsprachige Schüler*innen in Bezug auf ihre Herkunftssprachen? Welche Auswirkungen hat der Einbezug derselben? Zwei aktuelle Studien zum Thema liefern unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Antworten auf diese Fragen.


In der Schweiz wird Mehrsprachigkeit oft als Mehrwert gesehen. Das hängt aber ganz entschieden davon ab, welche Sprachen diese Mehrsprachigkeit umfasst und wie hoch deren soziales und ökonomisches Prestige ist. Anja Binanzer, Professorin an der Leibniz Universität Hannover, und Sarah Jessen, Gymnasiallehrerin an einem Gymnasium in Gladbeck (Deutschland), haben ein- und mehrsprachige Schüler*innen im Alter von 15 bis 20 Jahren zu ihren Einstellungen und Emotionen bezüglich Mehrsprachigkeit befragt. Im Zentrum steht die Frage, wie die Lernenden migrationsbedingte Mehrsprachigkeit an ihrer Schule erleben. Gemäss den Autorinnen sind es nämlich die Einstellungen und Emotionen zum Thema Mehrsprachigkeit, die entscheidend sind für den Erfolg von didaktischen Konzepten, welche Herkunftssprachen der Lernenden im Unterricht thematisieren. Sind die Lernenden gegenüber der Mehrsprachigkeit negativ eingestellt, sind diese Konzepte kaum erfolgversprechend.

Doch halten diese mehrsprachigkeitsdidaktischen Konzepte mit Fokus auf die Herkunftssprachen auch, was sie versprechen? Elisabeth Peyer, Malgorzata Barras und Gabriela Lüthi vom Institut für Mehrsprachigkeit haben sich genau dieser Fragestellung angenommen. In Schweizer Lehrmitteln werden seit einiger Zeit mehrsprachigkeitsdidaktische Sequenzen integriert, welche die Effizienz des Fremdsprachenlernens steigern und die Herkunftssprachen valorisieren sollen. Aktivitäten, welche Herkunftssprachen thematisieren, sind in den Lehrmitteln jedoch nur spärlich vorhanden und beschränken sich hauptsächlich auf das Erkennen oder Erraten von Sprachen, auf die Sensibilisierung der Kinder in Bezug auf die Sprachenvielfalt und auf das Sichtbarmachen der Herkunftssprachen. Kognitive oder metakognitive Aspekte werden viel weniger angesprochen. Zudem gibt es bislang nur wenig Forschungsarbeiten zum Umgang von Lehrenden und Lernenden mit solchen Aktivitäten.

Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit bewusst fördern

Die Autorinnen der ersten Studie haben sowohl ein- wie auch mehrsprachigen Schüler*innen einen standardisierten Fragebogen verteilt, bei dem die Lernenden insgesamt 19 vorgegebenen Aussagen zustimmen oder diese ablehnen konnten. Die wichtigsten Resultate:

Migrationsbedingt mehrsprachige Jugendliche sind der Meinung, die Lehrpersonen würden der Mehrsprachigkeit wenig oder keine Wertschätzung entgegenbringen. Die Mehrsprachigkeit an sich werde zwar prinzipiell als Mehrwert eingeschätzt, die Herkunftssprachen würden jedoch nicht als gewinnbringend angesehen. In einem zweiten Schritt gehen die Autorinnen der Frage nach, ob die Jugendlichen der Ansicht sind, dass sich aus der Mehrsprachigkeit ein Lernvorteil ergibt. Diese Frage kann bejaht werden: Aus Sicht der Jugendlichen ist das Beherrschen einer Herkunftssprache ein Lernvorteil. Entgegen der Annahme der Autorinnen sehen das sowohl einsprachig als auch mehrsprachig aufwachsende Jugendliche so. Drittens wird die punktuelle Integration von Herkunftssprachen untersucht. Geht es um die Integration von Herkunftssprachen als Lerngegenstand, so zeigen sich sowohl ein- als auch mehrsprachige Jugendliche offen. Die Autorinnen halten fest, dass ein gewisses Interesse vonseiten der Lernenden da ist, sich mit Herkunftssprachen zu beschäftigen. Den sonstigen Gebrauch der Herkunftssprachen (z.B. als informelles Kommunikationsmittel zwischen den Unterrichtsstunden) lehnen jedoch v.a. einsprachige Jugendliche ab. Eine darüber hinausgehende Integration der Herkunftssprachen als zweisprachige Lehrgänge oder als Unterrichtsfach begrüssen mehrsprachige (und vereinzelt einsprachige) Jugendliche. Diese Aussage wird im Nachhinein jedoch relativiert. Die Jugendlichen geben zwar an, dass eine stärkere Berücksichtigung ihrer Herkunftssprache in der Schule wünschenswert wäre, jedoch nicht unbedingt als Unterrichtssprache. Es geht ihnen hier vielmehr um die selbstbestimmte Anwendung der Sprache und um die Wertschätzung vonseiten der Lehrpersonen. Gerade diese selbstbestimmte Anwendung der Sprache findet jedoch bei den einsprachigen Jugendlichen wenig Anklang: Sie fühlen sich durch Gespräche in den Herkunftssprachen gestört und sprechen sich für eine Einheitssprache (also Deutsch) aus.

Die Autorinnen schliessen den Artikel mit einem klaren Statement und einer klaren Empfehlung: Da die Schule die Identitätsbildung und das Selbstkonzept der Lernenden stark beeinflusst und sich ihre oftmals monolinguale Ausrichtung sowohl auf ein- als auch auf mehrsprachige Lernende auswirkt, fordern sie von schulischen Institutionen eine bewusste Förderung der (migrationsbedingten) Mehrsprachigkeit und der positiven Einstellung ihr gegenüber. Hierzu sollen (angehende) Lehrpersonen auf mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte aufmerksam gemacht werden, welche die Herkunftssprachen mitdenken. Das Interesse der Schüler*innen hierfür wäre – zumindest in der untersuchten Gruppe – auf jeden Fall vorhanden.

Migrationsbedingt mehrsprachige Jugendliche sind der Meinung, die Lehrpersonen würden der Mehrsprachigkeit wenig oder keine Wertschätzung entgegenbringen.

Alles Gold, was glänzt?

Methodologisch ganz anders vorgegangen sind Peyer et al. (2020). Beim Studieren des von den Autorinnen vorgestellten Forschungsfeldes wird schnell klar, dass es unter den Forschenden keinen Konsens bezüglich der Integration von Herkunftssprachen in den Unterricht gibt. Auf der einen Seite sehen Forschende den Einbezug dieser Sprachen als wichtig für die soziale Anerkennung, den Selbstwert und die Identitätsentwicklung und heben hervor, dass dadurch eine positive Einstellung gegenüber der eigenen mehrsprachigen Identität aufgebaut werden kann. Zudem werde das interkulturelle Verständnis zwischen den Lernenden gestärkt. Auf der anderen Seite wird betont, dass verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Aktivitäten fruchten. So müssten die Lehrpersonen zulassen, dass es um Sprachen geht, über welche sie wenig bzw. kein Wissen verfügen und die Rolle der Expertinnen und Experten an die Kinder abgeben. Diese wiederum müssten diese Rolle annehmen wollen. Ob die Lernenden mit dieser Rolle wirklich glücklich sind, sei unklar. In einer im Artikel von Peyer et al. (2020) zitierten Studie gaben die Lernenden zwar an, sich mit ihrer Herkunftssprache verbunden zu fühlen, wünschten sich jedoch kaum einen vermehrten Einbezug dieser Sprachen in die Schule. Dies widerspricht den oben präsentierten Ergebnissen von Binanzer und Jessen (2020).

Für ihre Studie haben Peyer et al. (2020) 32 verschiedene Videos analysiert, in welchen elf- und zwölfjährige Primarschulkinder mehrsprachigkeitsdidaktische Aktivitäten in kleinen Gruppen durchführen. Ihre Analysen zeigen, dass die Wertschätzung der Herkunftssprachen und deren Sprecherinnen und Sprecher in mehreren Sequenzen zu beobachten ist. So werden die Kinder bewundert, etwas in ihrer Herkunftssprache sagen zu können (vor allem, wenn die Sprache prestigeträchtig ist) oder werden für ihre schöne Schrift gelobt (bei nichtlateinischen Schriftbildern). Einige Kinder waren stolz darauf, die Rolle der Expertinnen und Experten einnehmen zu können. Obwohl die anderen Kinder die Möglichkeit gehabt hätten, Fragen zur Sprache und Kultur zu stellen, nutzten sie diese Gelegenheit kaum. Was ebenfalls kaum beobachtet werden konnte, sind Sequenzen mit dem Ziel, eine offene Einstellung bezüglich sprachlicher und kultureller Vielfalt zu fördern. Die Aktivitäten in diesem Bereich scheinen vielmehr zu oberflächlich zu sein, um die Einstellungen der Kinder zu verändern. Die Lehrpersonen gehen nicht weiter auf die Äusserungen der Kinder ein und fordern sie nicht zu sprachlichen oder kulturellen Vergleichen auf. Die Autorinnen spekulieren, dass sowohl der Zeitfaktor als auch fehlende Erfahrungen im Umgang mit dem Einbezug der Herkunftssprachen sowie wenig umfangreiche Lehrer*innenkommentare hier eine Rolle spielen könnten. Beobachtet werden konnten darüber hinaus auch Sequenzen, in denen Lehrpersonen detailliertes sprachliches Wissen brauchten und – entweder aufgrund mangelnder Kenntnisse oder weil sie die Kinder nicht blossstellen wollten – Sachverhalte falsch darstellten. Doch nicht nur das: Die Aktivitäten führten oft zu unangenehmen Situationen, da die Kinder die gesuchten Begriffe in ihrer Herkunftssprache spontan nicht wiedergeben konnten. Gerade Kinder mit einer weniger prestigeträchtigen Herkunftssprache teilten sich zum Teil nur ungern in dieser Sprache mit. Die Autorinnen plädieren hier für Akzeptanz, falls ein Kind seine Herkunftssprache und -kultur nicht zum Thema machen möchte. Anstatt auf kurze Einzelsequenzen zu setzen, könnte es gemäss den Autorinnen auch Sinn machen, dem Thema eine Projektwoche zu widmen, was den Schüler*innen eher die Möglichkeit geben würde, sich in ihrer Rolle als Expertin oder Experte zurechtzufinden. Am Schluss werfen die Autorinnen darüber hinaus die Frage auf, ob die Ziele des mehrsprachigkeitsdidaktischen Unterrichts wirklich hauptsächlich im Fremdsprachenunterricht erreicht werden sollen.

Die Aktivitäten führten oft zu unangenehmen Situationen, da die Kinder die gesuchten Begriffe in ihrer Herkunftssprache spontan nicht wiedergeben konnten.

Die Schlüsselrolle der Lehrperson

Die oben präsentierten Forschungsergebnisse lassen aufhorchen. Besonders Lehrpersonen in multikulturellen Klassen sehen sich tagtäglich damit konfrontiert, einen Umgang mit der Mehrsprachigkeit zu finden. Aufgrund der eher spärlichen und zum Teil widersprüchlichen Forschungsliteratur lässt sich wohl keine allgemeingültige Empfehlung zum Umgang mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Unterrichtseinheiten abgeben. Auf der einen Seite scheint das Bedürfnis der Lernenden vorhanden zu sein, die Herkunftssprache in die Schule zu integrieren. Auf der anderen Seite sind die Risiken, welche damit verbunden sind, nicht zu unterschätzen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine gute Vorbereitung der Sequenzen durch die Lehrperson ausserordentlich wichtig ist: Sie muss sich Fachwissen über die einzelnen Sprachen aneignen, sich überlegen, wie sie auf Äusserungen der Kinder eingehen kann, sich bewusst sein, dass nicht alle Kinder sich in der Herkunftssprache mitteilen wollen und den Kindern eine angemessene Vorbereitungszeit einräumen. Nur so besteht die Chance, dass die Sequenzen den gewünschten Effekt erzielen.

Referenzen

Binanzer, A. & Jessen, S. (2020). Mehrsprachigkeit in der Schule – aus Sicht migrationsbedingt mehrsprachiger Jugendlicher. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 25:1, 221-252.

Peyer, E., Barras, M. & Lüthi, G. (2020). Including home languages in the classroom: a videographic study on challenges and possibilities of multilingual pedagogy. International Journal of Multilingualism, online publiziert, 1-16.

Photo by Sigmund on Unsplash

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