Das Sprachenlernen bei ukrainischen Flüchtlingen…und anderen!

Innerhalb von nur zwei Monaten haben Millionen von Ukrainer*innen in Europa und in der Schweiz Zuflucht vor dem Krieg gefunden. Diese Krisensituation bringt Herausforderungen für die Institutionen mit sich, die sie aufnehmen müssen, und ruft uns die Bedeutung des Sprachenlernens zum Zwecke des sozialen Zusammenhalts in Erinnerung. Das CeDiLE sprach mit drei Spezialist*innen für Migrationsfragen im Sprachunterricht, um eine Bestandsaufnahme vorzunehmen.

Der Krieg in der Ukraine führt zu einer beispiellosen Migrationskrise. Zwar ist der Zustrom in Osteuropa nach wie vor am grössten, doch auch das übrige Europa und die Schweiz sind betroffen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels haben mehr als 40’000 Ukrainer*innen in der Schweiz Zuflucht gefunden.  Noch nie hat die Schweiz so viele Menschen in so kurzer Zeit aufgenommen. Ob es sich nun um Kinder oder Erwachsene handelt, die Situation stellt die Institutionen vor grosse organisatorische und pädagogische Herausforderungen. Im Schulsystem der Ukraine steht das Erlernen von Russisch und Englisch im Vordergrund; Französisch und Deutsch werden eher am Rande gelehrt. Nach Ansicht des CIIP-Präsidenten ist es zwingend erforderlich, den Kindern grundlegende Kenntnisse in der Landessprache zu vermitteln. Und wie sieht es bei den Erwachsenen aus? Ist das Ziel eine langfristige sprachliche und soziale Integration? Wird die Sprach- und Bildungsförderung auf andere Flüchtlingsgruppen ausgeweitet? Eine Bestandsaufnahme mit Carmen Delgado Luchner, Anne-Christel Zeiter und Alexis Feldmeier García.

Carmen Delgado Luchner ist Leiterin des Sprachenzentrums der UniFR.

Anne-Christel Zeiter ist Dozentin an der EFLE (Schule für Französisch als Fremdsprache) der Unil.

Alexis Feldmeier García ist Forscher für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (Institut für Mehrsprachigkeit (CH) und Uni Münster (Deutschland)).

Eine neuartige und überraschende Welle der Solidarität

Carmen Delgado und Anne-Christel Zeiter sind sich einig: Sie sind beeindruckt von der Geschwindigkeit, mit der die Gesellschaft aktiv wurde, um die Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Fast alle Institutionen haben ihre Unterstützung angeboten: Der Bund gibt sich gastfreundlich und humanitär und die Universitäten ziehen mit solidarischen Aktionen nach. Anne-Christel Zeiter berichtet von einer Reaktivierung von Vereinen aus den Migrationskrisen der 2010er Jahre. Freiwillige engagieren sich wieder, um Ukrainer*innen bei der Wohnungssuche oder beim Französischlernen in Lausanne zu unterstützen.

Die Empathie und die Solidarität überraschen unsere beiden Gesprächspartnerinnen: Sie können sich nicht daran erinnern, dass sie jemals so viel Unterstützung für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea erlebt haben. Für ukrainische Flüchtlinge werden viele Verfahren in der Schweiz vereinfacht. Carmen Delgado betont, wie wichtig die ukrainische Staatsbürgerschaft für den Erhalt einer S-Bewilligung in der Schweiz ist: „In der Ukraine gibt es an den Universitäten und Hochschulen zahlreiche Studierende aus afrikanischen Ländern oder Indien, insbesondere in den Bereichen Informatik oder Medizin. Ohne ukrainische Staatsbürgerschaft sind sie auf sich allein gestellt“. Unsere beiden Gesprächspartnerinnen nehmen die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen als grosse Ungerechtigkeit wahr. Anne-Christel Zeiter prangert einen „systemischen Rassismus“ an: „Als die Syrer*innen ankamen, fühlten sie sich schlecht behandelt, als Menschen, die überhaupt nichts verstehen und eine Bedrohung für uns darstellen, obwohl sie zum Teil ein Studium absolviert hatten.“ Der Gedanke, dass die Ukrainer*innen in den Augen der Schweizer Bevölkerung „eher so sind wie wir“, trifft unsere beiden Gesprächspartnerinnen: Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind weiss und christlich; sie werden nicht mit einem terroristischen Feind in Verbindung gebracht, der die Stabilität des Westens bedrohen könnte. Auf jeden Fall hoffen unsere zwei Gesprächspartnerinnen, dass sich die Begeisterung für die Ukrainer*innen positiv auf die Art und Weise auswirken wird, wie andere Flüchtlinge aufgenommen werden. Alexis Feldmeier García aus Deutschland hingegen zieht es vor, die Situation der Ukrainer*innen nicht mit derjenigen anderer Bevölkerungsgruppen zu vergleichen: „Mir fehlen die Daten und die Kompetenz, um beurteilen zu können, ob ukrainische Flüchtlinge anders behandelt werden oder nicht.“

Ein gutes Bildungsniveau und ein leichterer Zugang zu Bildungs- und Sprachressourcen

Auch andere Faktoren scheinen die Aufnahme von Personen aus der Ukraine im Vergleich zu Personen aus anderen Ländern zu erleichtern. Alexis Feldmeier García hebt das allgemein sehr gute Bildungsniveau der Ukrainer*innen hervor. Wenn sie bleiben, „sind die Chancen, sie in die Gesellschaft zu integrieren, ganz anders“, so der Experte für die Alphabetisierung von Migrant*innen. Diese Aussage deckt sich mit derjenigen von Anne-Christel Zeiter: „Je weniger eine Person ausgebildet ist, desto abhängiger ist sie von den Entscheidungen der Institutionen.“ Die Ausbildnerin und Forscherin für Französisch als Fremdsprache weist jedoch darauf hin, dass nichts einfach ist, da es schwierig ist, die sozio-professionellen Profile der nächsten Migrationswellen vorherzusagen.

Ein weiterer Faktor ist, dass es fürs Russische oder Ukrainische viel mehr sprachliche und pädagogische Ressourcen gibt als für Sprachen wie Sorani, Tigrinya oder Paschtun, so Carmen Delgado. Russisch und Ukrainisch sind standardisierte, institutionalisierte Sprachen, die in der digitalen Welt weit verbreitet sind; es gibt zweisprachige Wörterbücher, Enzyklopädien, Sprachlehrbücher und Lehrmittel für Deutsch oder Französisch, welche für diese Zielgruppen geschaffen wurden. Die Leiterin des Sprachenzentrums fügt hinzu, dass es einfacher ist, Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen zu finden, zumindest fürs Russische, da es sich um eine internationale Sprache handelt, die auch in Westeuropa an Slawistikdepartementen und sogar an einigen Gymnasien gelehrt wird. Die Welle der Solidarität erstreckt sich auch auf den Sprachunterricht: Überall entstehen zahlreiche ehrenamtliche Initiativen. „Die Universitäten haben vielleicht etwas mehr Mühe zu reagieren, da wir wenig sichtbar sind. Die Universität Freiburg wurde auch weniger beansprucht als andere, und ich denke, dass unsere französisch-deutsche Zweisprachigkeit dazu beigetragen hat“, stellt Carmen Delgado fest. Darüber hinaus findet die gegenseitige Unterstützung oft auch auf digitalem Weg statt. Neben der Online-Wohnungssuche in ukrainischer Sprache hat die Leiterin des Sprachenzentrums zum Beispiel von Deutschkursen für Ukrainer*innen gehört, die über die App Telegram abgehalten werden.

Eine S-Bewilligung, die auf Arbeit und nicht auf Sprache ausgerichtet ist

Es muss angemerkt werden, dass es für Ukrainer*innen von Vorteil ist, digitale Lösungen zu nutzen, um Französisch oder Deutsch zu lernen. Laut Carmen Delgado ist die S-Bewilligung, die in der Schweiz schnell ausgestellt wird, nämlich nicht auf eine langfristige Integration ausgerichtet: Ukrainische Erwachsene können sofort arbeiten, aber die finanziellen Mittel, die der Bund für das Erlernen der Sprache bereitstellt – 3’000 Franken pro ukrainischen Flüchtling – sind sehr gering. „Das entspricht etwa einem ein- bis zweimonatigen Intensivkurs“, erklärt Delgado. Eine vollständige Integration scheint selten das Ziel zu sein. Anne-Christel Zeiter, die in der Westschweiz zu sprachlichen Sozialisationsprozessen bei Flüchtlingen gearbeitet hat, beschreibt einen institutionellen Mechanismus, der darauf ausgerichtet ist, Migrant*innen in Bereichen mit wenig Anerkennung zu halten: „Es werden Sprachkurse angeboten, die gerade so ausreichen, um das Niveau B1 zu erreichen, das gesetzlich als Integrationskriterium vorgeschrieben ist. Für viele Migrant*innen reicht das nicht aus, um ihre beruflichen Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Selbst mit anerkannten Abschlüssen hat man so nur Zugang zu unattraktiven Arbeitsstellen, die wenig Sicherheit bieten“.

Auf der Ebene der obligatorischen Schule sieht die Sache etwas anders aus. In der Schweiz haben ukrainische Kinder sehr schnell die Schulbank gedrückt. Natürlich müssen sie sich mit dem Erlernen der Landessprache auseinandersetzen, aber sie sind bei Weitem nicht die Einzigen: In den Klassenzimmern herrscht eine grosse Vielfalt an Migrationshintergründen und -sprachen. Das Schulsystem verlangt von fremdsprachigen Schülern eine zusätzliche Anstrengung. Eine Anstrengung, die laut Alexis Feldmeier García, der die Situation in Deutschland schildert, institutionell nicht anerkannt wird, da die DaZ-Kurse (für „Deutsch als Zweitsprache“, hauptsächlich für Schüler*innen mit Migrationshintergrund im deutschsprachigen Raum) nicht mit Noten bewertet werden. Es handelt sich um Stützkurse, aber die Schüler*innen werden weiterhin nur mit deutschen Erstsprachler*innen verglichen. Laut Alexis Feldmeier García gibt es keine flüchtlingsspezifische DaZ-Didaktik und die aus der Diversität resultierende Mehrsprachigkeit wird nur selten berücksichtigt: „Eine speziell konzipierte Mehrsprachigkeitsdidaktik mit einem kontrastiven Deutsch-Ukrainisch-Ansatz wird trotz einer homogenen Lernendengruppe nicht angeboten. Es gibt Projekte mit einem türkisch-deutschen Ansatz in Berlin, und es funktioniert! Aber in anderen Städten ist das nicht möglich, weil es zu wenige Kurse gibt. Ausserdem sind die Verlage an solchen Projekten nicht interessiert…“.

Der schweizerische Kontext bringt eine zusätzliche Schwierigkeit für fremdsprachige Schüler*innen mit sich. Beim Austausch mit verschiedenen Schulen hat sich laut Carmen Delgado herausgestellt, dass die Kumulierung von Fremdsprachen eine Herausforderung ist: „Die Kinder müssen ab der Primarschule eine zweite Amtssprache lernen und das ist derzeit eine grosse Hürde, vor allem für die etwas älteren Kinder.“

„Das System hat nicht nur Flüchtlinge!“

Alexis Feldmeier García zufolge werden weitere Migrationswellen auf uns zukommen, und man sollte eine strukturelle Veränderung vorsehen. Die Ukrainer*innen sind weder die ersten noch die letzten Flüchtlinge. Der Forscher ist der Meinung, dass DaZ als eigenständiges Fach in den Lehrplänen der Schulen anerkannt werden sollte. „Die Deutschkenntnisse von DaZ-Schüler*innen ohne Differenzierung zu messen, ist nie gut. Wenn DaZ ein Fach mit eigenen Noten wäre, wäre das eine Möglichkeit, die Bemühungen rund um das Erlernen der deutschen Sprache anzuerkennen, so wie es in Deutschland für Englisch oder Französisch üblich ist.“ Ganz allgemein spricht Alexis Feldmeier García auch andere Wege an, um die Kommunikation mit Anderssprachigen im Rahmen einer inklusiven Dynamik zu erleichtern. Beispielsweise könnte die zusätzliche Verwendung einer vereinfachten Sprache in offiziellen Mitteilungen und im Unterricht als Ergänzung zur nicht vereinfachten Sprache ein Mittel sein, mit dem bestimmte Sprachbarrieren umgangen werden könnten. „Es ist wie bei der Inklusion von körperlichen Behinderungen in der Gesellschaft: Man sollte sich nicht entscheiden müssen, ob man eine Treppe oder eine Rampe baut, sondern beides gleichzeitig anbieten.“

Durch die Krise navigieren, ohne zu wissen, wohin die Reise geht

Da der Ausgang und die Dauer des Krieges ungewiss sind, ist es sehr schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Während die Schweizer Behörden mit einer möglichen Rückkehr rechnen, scheinen die ukrainischen Flüchtlinge noch nicht langfristig zu planen. Laut Carmen Delgado und Anne-Christel Zeiter halten viele von ihnen Beziehungen zu ihrem Herkunftsland aufrecht und arbeiten oder studieren sogar aus der Ferne weiter. Bis zum Ende des Schuljahres wird in verschiedenen Bereichen Klarheit geschaffen werden müssen. Die Gemeinden planen in den Schulen bereits die Klasseneinteilungen für das neue Schuljahr im Herbst und es ist nicht klar, ob die Ukrainer*innen länger bleiben oder in ihr Heimatland zurückkehren werden. Wenn der Zustrom an Migrant*innen anhält, stellt sich Anne-Christel Zeiter zudem die Frage, was mit den Lehrpersonen passiert: Nach der Coronakrise herrscht ein Lehrpersonenmangel. Falls neue Lehrpersonen eingestellt werden müssen – insbesondere solche, die für die Aufnahme der geflüchteten Schüler*innen ausgebildet sind -, könnte sich die Lage zuspitzen.

Abschliessend kann festgehalten werden, dass die Fremd- und Zweitsprachendidaktik eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Ukrainer*innen spielt…und von Flüchtlingen im Allgemeinen.

Weiterführende didaktische Ressource

Babylonia Nr. 1/2017. Langues & réfugiés / Sprachen & Geflüchtete.

Zum (nochmaligen) Lesen oder Hören auf unserem Blog

Interview von Philippe Humbert und Flavio Manetsch

Photo by Kevin Bückert on Unsplash

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert