Vokabellernen mithilfe von Netflixserien? [Interview]

Ob zu Hause auf dem Sofa oder unterwegs im Zug: Netflix und Co. sind aus dem Alltag vieler Menschen kaum mehr wegzudenken. Aber können die Streamingdienste auch für den Fremdsprachenunterricht in der Schule genutzt werden? Lea Suter hat in ihrer kürzlich vorgestellten Masterarbeit untersucht, ob und wie mithilfe einer Netflixserie in der Sekundarschule Wortschatz gelernt werden kann. Ein Interview.

Als ausgebildete Sekundarlehrerin in den Fachbereichen Englisch und Französisch als Fremdsprache, Deutsch und Musik und seit Kurzem auch als Englisch-Fachdidaktikerin am ZELF (Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung Freiburg) hat Lea Suter untersucht, ob und unter welchen Bedingungen anhand von authentischem Filmmaterial im Französischunterricht Wortschatz erlernt werden kann. In ihrer Arbeit präsentiert sie die Ergebnisse einer Interventionsstudie mit 97 Schüler*innen der Sekundarstufe I, durchgeführt im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg. Die experimentell angelegte Studie zeigt auf, dass Serien in Originalsprache nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch als didaktisches Mittel im Fremdsprachenunterricht taugen. Das CeDiLE hat nachgefragt.

CeDiLE: Sie haben soeben Ihre Masterarbeit verteidigt. Können Sie mir erzählen, wie Sie auf das Thema «Wortschatzlernen mit Netflix» gekommen sind?

Bereits in meiner Seminararbeit habe ich mich mit dem Thema Wortschatz beschäftigt, indem ich die Lernapp «Duolinguo» untersucht habe. Mich hat bereits damals die Frage umtrieben, wie sich authentischer Input, z.B. in Form von Filmen, für das Wortschatzlernen nutzen lässt. In diesem Bereich wurde – insbesondere, was das Französisch anbelangt – bisher noch relativ wenig geforscht und die Jugendlichen sind diesbezüglich sehr motiviert. Deshalb diese Themenwahl.

Wie sind Sie vorgegangen?

Zuerst habe ich viele Gespräche mit verschiedenen Leuten geführt: Was schaut ihr? Was ist für Sekundarschüler*innen geeignet? Was sind spannende Serien? Schnell habe ich gemerkt, dass es für meine Studie eine Serie in Originalsprache, also Französisch, sein muss. Youtube musste ich aufgrund der meist autogenerierten Untertitel ausschliessen. So bin ich bei der Netflixserie «Plan coeur» gelandet. Danach habe ich eine Pilotklasse sowie Versuchsklassen gesucht. Ziel der Intervention in der Pilotklasse war es, geeignete Wörter für meine Studie in den Versuchsklassen zu finden. Ich konnte mich so für insgesamt 51 Wörter entscheiden, welche in der Pilotklasse grösstenteils unbekannt waren. Diese Wörter dienten als Basis für meine Intervention. In sechs verschiedenen Klassen verschiedener Niveaus (Progym, Sek und Real) habe ich sodann drei verschiedene Episoden der Serie à je 13 – 15 Minuten gezeigt und dabei verschiedene didaktische Settings eingesetzt: Isolierter Input (ohne Aktivität), Aktivität vor dem Schauen und Aktivität nach dem Schauen der Episoden. Mit einem unmittelbaren und einem identischen, aber zeitlich versetzten Posttest, bei dem es um das Wiederkennen der Wortbedeutung ging, habe ich getestet, welche Wörter bei den Lernenden hängen geblieben sind.

Und was haben Sie dabei herausgefunden?

Das Wortschatzlernen mit Netflix funktioniert! Die Lernenden können sich im Schnitt an 6 – 7 neue Wörter pro Episode erinnern. Dabei fördert eine zusätzliche Aktivität das Lernen von neuem Wortschatz. Die Aktivität vor dem Film durchzuführen, ist insbesondere bei den Realklassen von Vorteil. Ein Grund dafür könnte die gesteigerte Aufmerksamkeit bezüglich des ausgewählten Wortschatzes sein. Mindestens zwei Faktoren spielen eine Rolle, wie gut sich die Lernenden an den neuen Wortschatz erinnern können: Kürzere Wörter und Wörter, welche mindestens fünf Mal im Film erscheinen, sind leichter zu merken.

Das Wortschatzlernen mit Netflix funktioniert! Die Lernenden können sich im Schnitt an 6 – 7 neue Wörter pro Episode erinnern.

Decken sich diese Ergebnisse mit dem, was wir bereits über das Wortschatzlernen mithilfe von Filmmaterial wissen?

Ja, das kann man so sagen. Je mehr man einem Input ausgesetzt wird, desto höher sind die Chancen, dass sich die Lernenden ein Wort einprägen können. Repetition ist also wichtig. Wenn ein Wort immer wieder vorkommt, ist zudem die Aufmerksamkeit gesteigert, was wiederum den Lernprozess unterstützt. Im Allgemeinen ist aber ein Grundverständnis nötig, damit Wörter aufgenommen werden können. Schaue ich einen Film in einer Sprache, die ich gar nicht verstehe, verliere ich die Motivation, was für das Lernen wirklich nicht förderlich ist.

Wie schätzen Sie die Situation in den Klassenzimmern ein? Wird das breitflächig eingesetzt?

Das kommt einerseits auf das Lehrmittel, andererseits auch auf die Lehrperson an. Im Lehrmittel Clin d’oeil werden v.a. Kurzfilme eingesetzt. Meiner Ansicht nach wird das Medium Film im Allgemeinen aber noch eher spärlich eingesetzt. Wünschenswert wären hier Austauschplattformen, auf denen Lehrpersonen verschiedene aktuelle Unterrichtsmaterialien austauschen könnten, welche sie selber erstellt haben. Da steckt noch einiges an Potenzial drin.

Sie haben sich auf die Orientierungsschule fokussiert. Was muss auf anderen Schulstufen beachtet werden?

Je nach Stufe muss anders an das Thema herangegangen werden. So erachte ich es auf der Primarstufe als zentral, die Kinder an das Medium Film und allgemein ans Thema Medien heranzuführen. Nicht alles soll medialisiert werden, aber es ist Aufgabe der Schule, den Lernenden den Umgang mit den Medien beizubringen. Oft sind die Lernenden in diesem Bereich weniger kompetent als man annehmen würde. Gerade auf der Primarstufe ist die Auswahl des eingesetzten Films zentral: Er darf nicht zu einfach sein (z.B. Film für Kleinkinder), jedoch auch (sprachlich) nicht zu komplex. Netflix eignet sich aus meiner Sicht für diese Stufe deshalb eher weniger. Auf höheren Stufen ist das einfacher. Es kann mit verschiedenen Plattformen wie z.B. Play RTS, Youtube, Netflix oder SALTO gearbeitet werden. Zudem plädiere ich für einen bewussten Umgang mit Medien in der Schule und das auf allen Stufen: Die Lehrperson muss grundsätzlich die Kontrolle über die Medien behalten (z.B. Ipads sperren, wenn die Aufmerksamkeit auf die Lehrperson gelenkt werden soll). Die Lernenden sollen zudem nicht nur mit dem Tablet, sondern auch analog arbeiten (z.B. Notizen anfertigen).

Auf allen Stufen zu beachten ist ausserdem: Es ist gut möglich, dass die Lernenden durch den Input in der Schule dazu angespornt werden, den Film zu Hause weiterzuschauen. Nicht jede Familie besitzt jedoch die dafür nötige technische Infrastruktur.

Welchen Rat würden Sie einem Kollegen*einer Kollegin geben, der*die sich fragt, wie man mit Filmen im Fremdsprachenunterricht umgehen soll?

Es braucht vielfältigen Input. Das kann z.B. Filmmaterial sein. Wichtig ist, dass die Lernenden mit den Wörtern und der Zielsprache allgemein in Kontakt kommen und diese auch produktiv anwenden können. Das Ganze muss also didaktisiert werden, um das gesamte Lernpotenzial auszuschöpfen. Die Lehrperson muss sich gut überlegen, wie sie das Filmmaterial einsetzt. Dabei gilt wie so oft: in Massen!

Ein weiterer Ratschlag: Habt den Mut, die (Freizeit-)Interessen eurer Lernenden zu erkunden. Was interessiert sie? Wofür bringen sie bereits viel Motivation mit? Es lohnt sich, da anzuknüpfen.

Habt den Mut, die (Freizeit-)Interessen eurer Lernenden zu erkunden. Was interessiert sie? Wofür bringen sie bereits viel Motivation mit? Es lohnt sich, da anzuknüpfen.

Haben Sie bereits eine Idee, wie Ihre Forschungsarbeit fortgesetzt werden könnte?

Auf der einen Seite könnte man die Übungen vor dem Schauen des Films verändern. Welche Übungsart ist lernförderlicher? Wie sollten diese Übungen konzipiert sein, damit sie den Erwerb von neuem Wortschatz bestmöglich unterstützen? Ein weiteres Forschungsfeld wären die Sprachflüssigkeit und die Aussprache. Wie können diese Aspekte mit Netflix weiterentwickelt werden? Kann man das durch das Schauen von Filmen überhaupt beeinflussen?


Photo by Mollie Sivaram on Unsplash

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