In einem Hostel auf Freiwilligenbasis arbeiten und dabei ohne grossen Aufwand und ohne Zusatzkosten Englisch lernen: Die Versprechungen der Voluntourismusprogramme auf Malta sind gross. Doch können diese Versprechungen erfüllt werden? Dr. Larissa Schedel geht in einem kürzlich veröffentlichten Artikel der Frage nach, wie das Sprachenlernen durch Immersion während eines Arbeitseinsatzes im Ausland angepriesen wird, ob es funktioniert und wer davon profitiert. Ein Interview.
Nach ihrem Bachelorstudium in deutsch-italienischen Studien und einem Master in Mehrsprachigkeitsforschung hat Dr. Larissa Schedel eine Dissertation in kritischer Soziolinguistik verfasst. Momentan ist sie an der Universität Bonn als Postdoktorandin tätig und forscht zur englischen Sprachreiseindustrie auf Malta. Im kürzlich veröffentlichten Artikel «Der Preis der Immersion: Sprachlernende als billige Arbeitskräfte in Maltas Voluntourismusindustrie» präsentiert sie die Ergebnisse einer ethnographischen Studie, welche deutlich macht, dass die Marketingversprechen der verschiedenen voluntouristischen Programme nicht eingehalten werden und die Sprachlernenden mit den erzielten Fortschritten beim Sprachenlernen oft unzufrieden sind.
CeDiLE: Wie sind Sie auf das Thema «der Preis der Immersion» gekommen?
Während meiner Feldforschung in Malta wollte ich zunächst eigentlich nur in Sprachschulen forschen. Ich hatte damals nach der Ankunft auf Malta noch keine eigene Wohnung und habe deshalb ein Hostel gebucht. Im Gespräch mit dem Reinigungspersonal im Hostel habe ich gemerkt, dass viele dieser Leute extra nach Malta gekommen sind, um Englisch zu lernen, aber partout keine Sprachschule besuchen wollten. Als Gründe hierfür nannten sie einerseits ihr begrenztes Budget, andererseits waren sie aber auch frustriert, was schulische Lehr- und Lernmethoden angeht. Sie waren davon überzeugt, besser Englisch lernen zu können, wenn dies beiläufig während der Arbeit passiert. Das Sprachbad, wie wir es aus dem Immersionsdiskurs kennen, bezeichneten sie als beste Sprachlernmethode überhaupt. Deswegen haben sie sich entschieden, auf Freiwilligenbasis in dem Hostel zu arbeiten. Aufgrund der oftmals mangelhaften Englischkenntnisse wurden diese Personen jedoch nicht an der Rezeption, sondern als Reinigungskräfte eingesetzt. Aus der Forschung (z.B. Strömmer, 2016) wissen wir, dass sich Reinigungsjobs fürs Sprachenlernen kaum eignen. Die Mitarbeitenden im Hostel wollten ihre Englischkenntnisse also mittels eines Jobs aufbessern, der sich laut Forschungsergebnisse gar nicht dafür eignet. Dieser Umstand hat mich stutzig gemacht, weshalb ich angefangen habe, Interviews zu führen und diese Leute in ihrem Alltag zu begleiten.
Noch zum Titel des Artikels (sh. Einleitung): In Marketingdiskursen der Sprachreiseindustrie wird vorgerechnet, dass es sich lohne, ein paar Monate im Ausland zu investieren und auf freiwilliger Basis zu arbeiten, weil man danach die Sprache sehr gut beherrsche. Diese Rechnung ging aber für die Leute, die ich kennengelernt habe, meist nicht auf. Deshalb habe ich den Artikel in Anlehnung an den ökonomischen Investitionsdiskurs den «Preis der Immersion» genannt.
Können Sie die Situation auf Malta rund um das Thema beschreiben?
Malta ist ein kleiner Inselstaat und eine ehemalige britische Kolonie im Mittelmeer, weshalb neben Maltesisch auch Englisch gesprochen wird. Seit den Sechzigerjahren ist Malta eine beliebte Destination für Sprachlernende aus aller Welt, die ihr Englisch aufbessern möchten. Dabei steht aber nicht nur das Sprachenlernen im Vordergrund, sondern auch der Spassfaktor. Viele Leute kombinieren das Sprachenlernen mit Urlaub im warmen Mittelmeerklima. So gibt es unzählige Sprachschulen sowie Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Letztere brauchen das Englisch oft für die Arbeit oder das Studium an der Universität. Vor Ort wird bei Gastfamilien oder in den Unterkünften der Sprachschule gewohnt. Aufgrund der vielen Freizeitangebote, die ans Sprachenlernen gekoppelt sind, kann hier ganz klar von einer Sprachtourismusindustrie gesprochen werden.
Wer nicht an einer Sprachschule Englisch lernen möchte, kommt als sogenannte*r Voluntourist*in nach Malta. In diesem Fall wird auf freiwilliger Basis gearbeitet (z.B. im Service, in einem Hostel, Verkauf von Tickets für touristische Aktivitäten). Die Leute erhoffen sich beim Ausführen dieser Jobs, für die es keine Qualifikationen braucht, Englisch zu lernen, da das Umfeld Englisch spricht. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Das internationale Umfeld führt dazu, dass zwar viel, aber nicht ausschliesslich Englisch gesprochen wird. Das Kompetenzniveau im Englisch unterscheidet sich dabei von Person zu Person stark. Neben den Einheimischen, von denen viele Maltesisch als Erstsprache sprechen, und dem internationalen Publikum, dessen Englischkenntnisse ebenfalls sehr unterschiedlich sind, gibt es auch anglophone Tourist*innen, welche die Freiwilligenarbeit nicht wegen der Sprache leisten, sondern, um ihren Urlaub zu finanzieren.
In Ihrem Artikel erwähnen Sie den «discourse of immersion» und die Immersion als «linguistic ideology». Können Sie dies näher ausführen?
Unter «linguistic ideology» respektive Sprachideologie versteht man Wert- und Normvorstellungen bezüglich einer Sprache, Sprachpraktiken oder Sprachlernmethoden. Es sind dominant verbreitete Ansichten zu sprachlichen Praktiken oder Fähigkeiten, welche den Leuten meistens nicht bewusst sind, ihr Handeln jedoch beeinflussen und bestehende Ungleichheiten oder Machtstrukturen legitimieren. Eine typische Sprachideologie wäre zum Beispiel die «native-speaker-ideology». Dabei geht es darum, dass viele Leute der festen Überzeugung sind, dass sogenannte «Muttersprachler*innen» ihre Erstsprache perfekt beherrschen. Dies führt zum Beispiel dazu, dass diejenigen, die als Muttersprachler*innen wahrgenommen werden, als Sprachlehrpersonen bevorzugt werden, obwohl sie unter Umständen gar keine didaktisch-pädagogische Ausbildung absolviert haben. Personen, welche die zu unterrichtende Sprache vielleicht sogar besser beherrschen, jedoch nicht als Muttersprachler*innen angesehen werden, werden bei der Vergabe von Arbeitsstellen hingegen benachteiligt. Dieses Beispiel zeigt, wie machtvoll solche sprachlichen Ideologien sind und wie sie zur Hierarchisierung verschiedener Personen beitragen. Die Forschung zu den Ideologien möchte diese Überzeugungen kritisch hinterfragen, sie dekonstruieren und für ihre sozialen Konsequenzen sensibilisieren. Dazu schauen sich die Forschenden die Diskurse sowie die Praktiken zu einem bestimmten Thema an.
Als ich den Diskurs rund um das Thema Immersion angeschaut habe, habe ich gemerkt, dass Immersion als beste, effizienteste, schnellste und authentischste Lernmethode überhaupt dargestellt wird und mit dem schulischen Lernen kontrastiert wird. Das schulische Lernen wird dabei als künstlich, ineffizient und langweilig dargestellt, die Immersion hingegen wird mit dem natürlichen Spracherwerb eines Kleinkindes verglichen. Dieser Diskurs schiebt den Lernenden die ganze Verantwortung in die Schuhe. Lernt jemand die Zielsprache nicht automatisch und schnell, ist nicht die Immersion schuld, sondern der*die Lernende selbst. Individuelle Unterschiede wie Fähigkeiten oder Motivation werden ausgeklammert. Ebenfalls ausgeklammert wird der Fakt, dass die Bevölkerung Maltas keine homogene englischsprachige Gruppe mit perfekten Englischkenntnissen ist.
Als ich den Diskurs rund um das Thema Immersion angeschaut habe, habe ich gemerkt, dass Immersion als beste, effizienteste, schnellste und authentischste Lernmethode überhaupt dargestellt wird und mit dem schulischen Lernen kontrastiert wird.
Sie sprechen von einem «neoliberal subject». Was genau ist darunter zu verstehen?
Neoliberalismus wird ganz unterschiedlich definiert: z.B. als spezifische wirtschaftspolitische Massnahmen, als Phase des Kapitalismus oder als Ideologie. In Anlehnung an Michel Foucault verstehe ich unter Neoliberalismus eine Gouvernementalitätsform, also eine Regierungsrationalität, welche die Ökonomisierung aller Lebensbereiche umfasst. Wenn alle sozialen Praktiken einer wirtschaftlichen Denkweise unterworfen werden, führt dies dazu, dass jegliches menschliche Handeln nach einer Kosten-Nutzen-Logik funktioniert. Man fragt sich also jedes Mal, ob es sich lohnt, Zeit, Gefühle, Arbeit oder Geld zu investieren. Neoliberale Diskurse versprechen den Individuen Erfolg, vorausgesetzt, sie haben genügend Disziplin und investieren ausreichend in ihr eigenes Humankapital. In diesem Zusammenhang wird auch vom unternehmerischen Selbst gesprochen, das als Entrepreneur fortwährend an der eigenen Selbstoptimierung arbeitet. Wie bereits oben beim Immersionsdiskurs erwähnt, wird auch hier das Individuum für den Erfolg bzw. das Scheitern verantwortlich gemacht. Frei nach dem Motto: «Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied». Dies ist jedoch äusserst problematisch, da erstens nicht alle Menschen die gleichen Ausgangsbedingungen haben und zweitens soziale Ungleichheiten nicht dadurch entstehen, dass jemand etwas nicht genug gewollt oder genug versucht hat. Individuelle und strukturelle Faktoren wie z.B. Diskriminierung spielen hier eine grosse Rolle. Das neoliberale Subjekt ist schlussendlich eine Person, welche diese ökonomisierte Rationalität verinnerlicht hat.
Welchen Fragen sind Sie in Ihrer Studie nachgegangen?
Mit meiner Studie wollte ich herausfinden, wie das Immersionslernen im Rahmen von Arbeitseinsätzen im Ausland vermarktet wird, wie das Immersionslernen dort stattfindet und wer davon profitiert.
Wie sind Sie vorgegangen, um mehr über die Situation der Voluntourist*innen in Erfahrung zu bringen?
Ich habe in dem oben erwähnten Hostel verschiedene ethnographische Daten generiert (z.B. Interviews, Feldnotizen zu meinen Beobachtungen vom Arbeitsalltag und von Freizeitaktivitäten der Voluntourist*innen). Darüber hinaus habe ich mir das Marketingmaterial von Voluntourismusagenturen angeschaut, welche Stelleninserate für die Freiwilligenarbeit auf ihrer Homepage aufschalten. Einerseits konnte ich so untersuchen, wie die Leute über Immersion sprechen, andererseits konnte ich so auch Einblicke erhalten, wie sich die Immersion vor Ort gestaltet und wie sich die Forschungsteilnehmenden bezüglich ihrer Sprachlernerfahrungen fühlen.
Welches sind die wichtigsten Resultate Ihrer Studie?
Meine Forschung hat gezeigt, dass das, was im Marketingdiskurs rund um die Immersion versprochen wird, in der Realität nicht eingehalten wird und auch gar nicht eingehalten werden kann. Die Reinigungsjobs, welche an die Sprachlernenden vergeben werden, bieten nur begrenzt Möglichkeiten zur Kommunikation und somit zur Verbesserung der Sprachkenntnisse. Hinzu kommt, dass Malta so international ist, dass Englisch zwar oft als lingua franca benutzt wird, aber eben nicht nur. Es kann also nicht von totaler Immersion gesprochen werden, auch deshalb, weil diese Jobs kaum Kontakte zu Einheimischen ermöglichen und sich der Alltag vor allem im Hostel abspielt. Das Hostel bietet den Voluntourist*innen jedoch vielfältige Freizeitaktivitäten mit anderen Voluntourist*innen oder den Gästen, welche ihrerseits aber auch mehrheitlich mehrsprachig sind. Folglich überrascht es nicht, dass viele Forschungsteilnehmende mit ihren Lernfortschritten nicht zufrieden waren. Zudem ist die Arbeits- und Wohnsituation ziemlich prekär: Es wird kein Lohn ausgezahlt, sondern ein Bett in einem Zwölfbettzimmer zur Verfügung gestellt. Oft müssen Überstunden geleistet werden.
Meine Forschung hat gezeigt, dass das, was im Marketingdiskurs rund um die Immersion versprochen wird, in der Realität nicht eingehalten wird und auch gar nicht eingehalten werden kann.
Man kann also festhalten, dass die Voluntourist*innen oft als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden – und das sogar doppelt: Einmal als Reinigungskraft und einmal in der Freizeit, weil sie da Gäste entertainen oder Freizeitaktivitäten promoten müssen. Vielen ist diese Ausbeutung bewusst, weshalb sie ihre Stelle vor Ablauf der vereinbarten Frist verlassen. Andere haben den Immersionsdiskurs so stark verinnerlicht, dass sie die Schuld für die langsamen Lernfortschritte bei sich suchen. Statt die Stelle zu künden, bemühen sie sich noch mehr, indem sie den Aufenthalt verlängern oder nebenbei Sprachkurse belegen, ohne sich zu fragen, ob es vielleicht am Lernsetting liegt.
Die Voluntourismusindustrie konstituiert die Lernenden als neoliberale Subjekte, um sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten zu können.
Meine Schlussfolgerung ist, dass sich die Voluntourismusindustrie den Immersionsdiskurs aneignet, um Englischlernende zu motivieren, in sich selber und in die eigenen Sprachkompetenzen zu investieren. Die Lernenden werden aber gleichzeitig auch selbst für ihre Lernfortschritte verantwortlich gemacht (sh. dazu auch das Interview mit Zorana Sokolovska: À quoi ça sert de célébrer la diversité linguistique? [Entretien] – CeDiLE, wo ein ähnliches Phänomen angesprochen wird). Die Voluntourismusindustrie konstituiert die Lernenden als neoliberale Subjekte, um sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten zu können.
Im ganzen Projekt wende ich eine kritische soziolinguistische Perspektive an und frage danach, wie bestimmte sprachliche Praktiken mit der Reproduktion von Machtstrukturen, dominanten Ideologien und sozialen Ungleichheiten einhergehen. Was ich jedoch nicht untersucht habe, ist die Wirksamkeit der Immersion in Bezug auf den Sprachstand. Ich kann also nichts darüber aussagen, wie sich der Sprachstand der Forschungsteilnehmenden während ihres Aufenthalts auf Malta tatsächlich verändert hat.
In welches grössere Projekt lässt sich der Artikel einbetten? Wie geht es weiter?
Der Artikel ist als Teil meines Postdoc-Projekts «language skills for sale» entstanden, im Rahmen dessen ich erforsche, wie sich die Sprachreiseindustrie auf Malta seit ihren Anfängen in den Sechzigerjahren bis heute entwickelt hat und wie die englische Sprache dabei kommodifiziert, d.h. vermarktet, verkauft und konsumiert wird. Das Thema «Voluntourismus» lässt mich auch weiterhin nicht los. Aktuell arbeite ich mit meiner amerikanischen Kollegin Prof.in Cori Jakubiak zusammen, die untersucht, wie englischsprachige Personen ohne didaktischen oder pädagogischen Hintergrund in nicht-englischsprachige Länder reisen, um dort unentgeltlich Englisch zu unterrichten. Dies wird als humanitärer Einsatz beworben, dient aber eigentlich auch dazu, den eigenen CV aufzupeppen. Wir planen, gemeinsam einen Sammelband zum Thema Sprachenlehren und -lernen im Kontext von Voluntourismus herauszugeben.
Referenzen:
Schedel, Larissa S. 2021. The price of immersion: Language learners as a cheap workforce in Malta’s voluntourism industry. Multilingua First Online. 1–20.
Strömmer, Maiju. 2016. Affordances and constraints: Second language learning in cleaning work. Multilingua 35(6). 697–721.
Photo by Ferenc Horvath on Unsplash