Rund 150 Millionen Nutzer:innen, und zwar alleine in Europa: Die Kurzvideoplattform TikTok ist vor allem bei jungen Menschen beliebt, sowohl als Portal für Musikvideos als auch als soziales Netzwerk. Weniger bekannt: Auf der Plattform finden sich auch Videos, die Grammatikphänomene erklären. Solche Videos hat Vivian Dam, Absolventin des Masterstudiengangs Fremdsprachendidaktik an der Universität Freiburg, in ihrer kürzlich verteidigten Masterarbeit unter die Lupe genommen. Ein Interview von Flavio Manetsch (PH Freiburg).
Vivian Dam, Lehrperson für Deutsch als Fremdsprache an der ECAP in Bern, hat in ihrer Masterarbeit untersucht, welche TikTok-Grammatikerklärvideos vorkommen und wie diese aufgebaut sind. In ihrer Arbeit präsentiert sie die Analyse von 24 deutsch- und englischsprachigen TikTok-Videos. Dabei wird deutlich, dass die Videos vor allem auf das explizite Erklären von Grammatikphänomenen fokussieren und zum Teil auch Übungen für die Vertiefung anbieten. Darüber hinaus haben sich aber auch offene Fragen ergeben, etwa zu den Richtlinien für das Hochladen solcher Videos. Das CeDiLE hat nachgefragt.
CeDiLE: Sie haben soeben Ihre Masterarbeit verteidigt. Können Sie mir erzählen, wie Sie auf das Thema «TikTok und Fremdsprachenlernen» gekommen sind?
Vivian Dam: Auf das Thema bin ich gekommen, weil digitale Medien nicht nur in der Alltagswelt, sondern auch im Fremdsprachenunterricht immer präsenter werden. Diese Relevanz wird in meinem eigenen Unterricht sichtbar, aber auch in der Forschung. Deshalb hatte ich bereits eine meiner Seminararbeiten dem Thema «Digitale Medien im Präsenzunterricht im Bereich Fremdsprachen» gewidmet. Ich wurde sodann auf die sogenannten «Reels» auf Instagram aufmerksam, die aber zu einem grossen Teil von TikTok stammten. In meiner zweiten Seminararbeit habe ich daraufhin Grammatikerklärvideos zu Präpositionen auf Englisch untersucht, was mich wiederum zum Thema meiner Masterarbeit geführt hat. Schnell habe ich gemerkt, dass es eine Vielzahl an deutsch- und englischsprachigen Kurzvideos für das Erklären von Grammatikphänomenen gibt, die ich näher untersuchen wollte.
Zu welcher Fragestellung sind Sie somit gelangt? Und welche Hypothesen haben Sie aufgestellt?
Ich habe den Fokus bei der Untersuchung für meine Masterarbeit auf deutsch- und englischsprachige Grammatiklernvideos auf unterschiedlichen Niveaus gelegt. Ich bin zu folgender Forschungsfrage gelangt, woraus sich während der Untersuchung weitere Unterfragen entwickelt haben:
Wie werden grundlegende und komplexe Grammatikthemen in TikTok-Lernvideos im Bereich EFL verglichen mit DaF unterrichtet?
- Welche Grammatiklehrmethoden und -ansätze verwenden die Instruierenden?
- Wie nutzen die Instruierenden das Videoformat für ihren Unterricht?
- Auf welche Weise interagieren die Instruierenden mit den Zuschauer:innen?
Wie sind Sie bei Ihrer Forschungsarbeit vorgegangen?
Zuallererst musste ich selbstverständlich die App herunterladen und ein Profil erstellen (lacht). Um die Auswahl der Grammatikthemen einzugrenzen, habe ich in Absprache mit meinem Betreuer in einer Literaturrecherche zunächst nach typischen Stolpersteinen im Grammatikunterricht für Deutsch und Englisch als Fremdsprache gesucht. Da ich ein breiteres Spektrum an Videos untersuchen wollte, habe ich mithilfe von «Profile Deutsch» und «English profile project» die Grammatikthemen auf zwei verschiedenen Niveaus des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens ausfindig gemacht und danach insgesamt 24 Videos (je 6 pro Sprache und Niveau) untersucht. Um die Videos einzugrenzen, war ein Kriterium für die Auswahl, dass sie von Profilen stammten, die nur Videos zum Sprachenlernen beinhalteten. Profile, die rein der Unterhaltung dienen, wurden nicht berücksichtigt. Nach der Eingrenzung konnte ich die in der Literatur beschriebenen Grammatikvermittlungsmethoden und die Videos vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Und was haben Sie dabei herausgefunden?
Die Analyse zeigt, dass es drei verschiedene Typen von Videos gibt. Am meisten kommen Videos vor, in denen die Instruierenden sichtbar sind und Untertitel oder Notizen einblenden. Seltener sind nicht sichtbare Instruierende, welche mit einer digitalen Wandtafel und «handschriftlichen» Notizen arbeiten und auch Videos, in denen nicht sichtbare Instruierende eine digitale Präsentation à la Powerpoint einsetzen. Die Notizen brauchen die Instruierenden dann zum Teil, um zusätzliche Erklärungen oder Beispiele zu geben, die sie mündlich nicht ausführen. Die typische Struktur der Videos sieht etwa so aus: Die Instruierenden geben zuerst eine explizite Erklärung des Grammatikphänomens und illustrieren sie mit Beispielen. Danach folgen teilweise auch angeleitete Übungen. Die Gesamtlänge der Videos liegt dabei bei durchschnittlich unter einer Minute (siehe Tabelle unten).
Welche Fragen werfen die Videos auf?
Tatsächlich ist es so, dass die Analyse der Videos zu vielen offenen Fragen geführt hat. So sprechen die Instruierenden sehr oft von «wir», wie beispielsweise: „We use „in“ for centuries, years, months, seasons.“, wobei nicht klar ist, was sie damit genau meinen, da die Videos keine Angaben zur Profession der Instruierenden enthalten. Selbstverständlich fügen einige Instruierende ihrem Profil Angaben zum Beruf hinzu, aber wirklich überprüfen lässt sich das nicht. Das ist aber ein grundsätzliches Problem von solchen Plattformen. Die Frage stellt sich also, ob die Inhalte kontrolliert werden bzw. ob eine Kontrolle der Inhalte nötig wäre, vor allem in Anbetracht dessen, dass die Plattform zum Lehren und Lernen genutzt wird. Es sind nämlich aus grammatikalischer Sicht durchaus auch Fehler in den Videos zu finden. Meine Recherche zu den offiziellen «Guidelines» für solche Erklärvideos hat ergeben, dass es keinerlei Richtlinien für das Hochladen der Videos gibt. Das ist umso problematischer, weil das Hochladen solcher Videos unter Einhaltung verschiedener Kriterien teilweise auch finanziell unterstützt wird, etwa durch den «TikTok Creator Fund». Je nach Likes und Follower können Instruierende also Geld verdienen.
Es sind nämlich aus grammatikalischer Sicht durchaus auch Fehler in den Videos zu finden. Ein Problem besteht darin, dass es an Kontrolle über die Inhalte mangelt.
Vivian Dam
Decken sich diese Ergebnisse mit dem, was wir bereits über das Grammatiklernen mittels digitaler Plattformen wissen?
In diesem spezifischen Bereich des Grammatiklernens auf Plattformen wie TikTok gibt es sehr wenige Studien. Ich habe lediglich eine Studie gefunden, welche aber Youtube und nicht TikTok untersucht hat. Das Forscher:innenteam dieser einen Studie hat ebenfalls festgestellt, dass die Inhalte explizit vermittelt und dass deduktiv vorgegangen wurde. Auf dieses deduktive Vorgehen bin ich in meiner Arbeit aber nicht weiter eingegangen. Aus diesem Grund kann mich meine Untersuchungen nicht direkt mit anderen Studien vergleichen. Meine Vergleiche beziehen sich darum auch mehr auf das allgemeine Grammatiklernen und nicht auf das Lernen mittels digitaler Plattformen. Wie vorhin angetönt, bleiben die Erklärvideos auf der Ebene des Erklärens, auch wenn die Instruierenden zum Teil dazu animieren, aktiv mitzumachen, indem sie beispielsweise Übungen anbieten oder zum Kommentieren auffordern.
Was es jedoch gibt, sind Studien zu den Einstellungen der Lernenden in Bezug auf digitale Lernplattformen. Diese Studien zeigen, dass die Lernenden dem Einsatz von solchen Medien gegenüber durchaus positiv eingestellt sind.
Wäre das auch etwas fürs Klassenzimmer? Wie schätzen Sie hier das Potenzial ein?
Um hier zu einer abschliessenden Antwort zu gelangen, müssten wir dieses Thema natürlich noch weiter erforschen. Da die Einstellungen der Lernenden gegenüber den Lernvideos jedoch so positiv ist, könnte ich mir vorstellen, dass es sich lohnen könnte, solche Videos als Ergänzung zum regulären Unterricht einzusetzen. Gerade auch deshalb, weil die Videos je nach Alter der Lernenden auch im Leben ausserhalb der Schule eine grosse Bedeutung haben. Die Videos fokussieren auf verschiedene Inhalte, wie zum Beispiel Wortschatz, Aussprache oder eben – wie in meinem Fall – auf Grammatik. Diese könnte man zur Vertiefung und Repetition von Unterrichtsinhalten einsetzen, um eine weitere Art und Weise des Erklärens miteinzubinden. Zusätzlich könnte ich mir vorstellen, dass das Erstellen eines solchen Videos auch ein Projekt für Lernende sein könnte, bei dem sie selbstständig zu einem bestimmten Thema recherchieren und danach ein Video dazu drehen. Das müsste nicht unbedingt veröffentlicht, sondern könnte klassenintern präsentiert werden.
Gibt es dafür Vorbilder?
Im Internet finden sich verschiedene Blogs, welche Ideen für den Unterricht mit TikTok präsentieren. Sogar das Goethe-Institut hat ein TikTok-Profil und schlägt vor, die hochgeladenen Videos als Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen damit (zum Beispiel Lernaufgaben) zu nutzen. Konkrete Beispiele für solche Auseinandersetzungen, die gezeigt werden, sind unter anderem das Lesen von Dialogen, das freie Sprechen, das Beantworten von Hörverständnisfragen oder Satzbildungsaufgaben.
Sogar das Goethe-Institut hat ein TikTok-Profil und schlägt vor, die hochgeladenen Videos als Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen damit (zum Beispiel Lernaufgaben) zu nutzen.
Vivian Dam
Was sind die Risiken solcher Videos?
Einige Risiken haben wir bereits angesprochen. Oft ist nicht klar, wieso jemand ein Video hochlädt, was also die Motivation dahinter ist. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch falsche Sachverhalte dargestellt werden. Ein weiteres Problem ist die fehlende Kontrolle. Einen weiteren wichtigen Aspekt, den ich in meiner Arbeit nicht in den Fokus genommen habe, jedoch im Zusammenhang mit dieser Frage als wichtig empfinde, sehe ich im Datenschutz, vor allem dann, wenn man die Videos im Unterricht einsetzen möchte und mit Kindern respektive Jugendlichen arbeitet.
Kommen wir zurück auf das Potenzial der Videos für den Unterricht…
Diese Thematik habe ich in meiner Arbeit nicht fokussiert. Als DaZ-Lehrperson habe ich mich dies jedoch gewiss gefragt. Folgende Frage sollte man sich als Lehrperson grundsätzlich stellen: Möchte ich eine Plattform in den Unterricht integrieren, mit der die Lernenden bereits ausserschulisch sehr viel Zeit verbringen? Ein möglicher positiver Aspekt des Einbezugs ist, dass den Lernenden ein sinnvoller Umgang mit den Videos gezeigt und so auch ihre Medienkompetenz gefördert werden kann. Um das definitiv sagen zu können, müsste jedoch weiter dazu geforscht werden.
Haben Sie bereits eine Idee, wie Ihre Forschungsarbeit fortgesetzt werden könnte?
Zu den Risiken könnte auf jeden Fall noch weitergeforscht werden. Ich fände es interessant, zu schauen, wie die Videos von den Nutzer:innen genutzt werden respektive wie sie damit umgehen. Dazu könnte man eventuell die Kommentarspalte nutzen. Es würde sich sicherlich auch lohnen, den Einsatz im Unterricht genauer zu untersuchen. Wie können die Videos gewinnbringend eingesetzt werden? Das könnte mit Lehrpersonen und Fachdidaktiker:innen angeschaut werden.
Vielen Dank, Vivian Dam!
Foto von Solen Feyissa auf Unsplash
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