Erreichen die Schüler:innen am Ende der obligatorischen Schulzeit vergleichbare Kompetenzen in den beiden Fremdsprachen, wie es im Lehrplan 21 vorgesehen ist? Dieser Frage wollte Sebastian Salzmann (PH-VS) in seiner Masterarbeit in Fremdsprachendidaktik an der Universität Freiburg nachgehen. Dazu hat er den Wortschatz von Schüler:innen der 11. Klasse (HarmoS) aus der Deutschschweiz in Aufsätzen in ihrer Schulsprache, in ihrer ersten Fremdsprache (Französisch) und in ihrer zweiten Fremdsprache (Englisch) mit dem verwendeten Wortschatz von Schüler:innen aus französisch- bzw. englischsprachigen Regionen verglichen. Insgesamt hat er die lexikalische Vielfalt von 386 Aufsätzen mithilfe algebraischer Masse berechnet und liess zudem angehende Lehrpersonen verschiedene Aspekte dieser Texte bewerten. Die Ergebnisse zeigen, dass die schriftlichen Kompetenzen in den Fremdsprachen der deutschsprachigen Schüler:innen in Englisch näher bei denen der Schüler:innen liegen, die in der entsprechenden Sprache eingeschult wurden, als in Französisch.
CeDiLE : Was hat dich dazu bewegt, deine Forschung auf die Untersuchung von schriftlichen Texten von Schüler:innen am Ende der Sekundarstufe 1 auszurichten ?
Sebastian Salzmann : Als Lehrperson im Fremdsprachenunterricht des Zyklus 3 (= Sekundarstufe I) war es mein Anliegen, die angestrebten Kompetenzen des Lehrplans 21 am Ende der obligatorischen Schulzeit in den Fächern Französisch und Englisch zu vergleichen. Der Lehrplan 21 erwartet vergleichbare Kompetenzen in beiden Fremdsprachen, basierend auf dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS, Niveau A 2.1. im Bereich Schreiben, bzw. Niveau A2.2 in den übrigen Bereichen). Der Austausch mit Kolleg:innen sowie Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass diese Erwartungen in der Praxis selten erfüllt werden. Zum Beispiel haben Peyer et al. (2016) für die BKZ-Region (Zentralschweiz) gezeigt, dass die Sprachkompetenzen in der ersten Fremdsprache Englisch deutlich besser waren als in der zweiten Fremdsprache Französisch. Mit meiner Arbeit wollte ich wissenschaftlich untersuchen, ob solche Unterschiede auch in Gebieten auftreten, in denen Französisch als erste Fremdsprache und Englisch als zweite Fremdsprache eingeführt werden. Aus meiner eigenen Erfahrung im Oberwallis, stellte ich die Hypothese auf, dass Kompetenzunterschiede zwischen den beiden Fremdsprachen zugunsten der englischen Sprache auch stattfinden, obwohl die Einführung der Fremdsprachen in umgekehrter Reihenfolge stattfindet.
Der Lehrplan 21 erwartet vergleichbare Kompetenzen in beiden Fremdsprachen, basierend auf dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS, Niveau A 2.1. im Bereich Schreiben, bzw. Niveau A2.2 in den übrigen Bereichen). Der Austausch mit Kolleg:innen sowie Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass diese Erwartungen in der Praxis selten erfüllt werden.
Sebastian Salzman
Da aus meiner Erfahrung der schriftliche Ausdruck gut erfassbar ist, habe ich mich für die Evaluierung und den Vergleich von schriftlichen Textproduktionen in der Schulsprache Deutsch und den Fremdsprachen Französisch (L2) und Englisch (L3) entschieden.
Du bist also von einer Beobachtung im Unterricht ausgegangen, die sich in der wissenschaftlichen Literatur widerspiegelt. Warum hast du dich dazu entschieden, dich auf die lexikalische Vielfalt der Aufsätze zu konzentrieren?
Ideal wäre es, wenn wir das entsprechende GER-Niveau der Lernenden in den beiden Fremdsprachen einordnen könnten, um so direkt Vergleiche zwischen den beiden Fremdsprachen anzustellen. Bei konkreten Überlegungen zur Messung der Sprachkompetenzen der Schüler:innen stellte sich jedoch heraus, dass die alleinige Einstufung des GERS-Niveaus unrealistisch wäre , da ein:e Schüler:in sich auf unterschiedlichen Niveaus in den Bereichen Wortschatz, Grammatik oder Phonologie befinden kann. Zudem zeigen einige Forschende (vgl. Hulstijn 2007) auf, dass es wenig empirische Evidenz für angebliche Zusammenhänge zwischen den GER-Stufen und standardisierten Prüfungen gibt. Bei meiner Suche nach einem geeigneten automatisierten Mass habe ich im Rahmen meines Masterstudium die Forschung zur lexikalischen Vielfalt entdeckt und bin dabei auf einen Artikel von Treffers-Daller et al. (2016) gestossen. Die Autor:innen berichten, dass Masse zur Messung der lexikalischen Vielfalt für die automatisierte Überprüfung des Wortschatzes von Lernenden in Schreibaufgaben zwar von grossem Nutzen sein können, dass diese jedoch nicht in der Lage sind, zwischen den Stufen des GERS zu unterscheiden. Anders gesagt, hat die lexikalische Vielfalt das Potenzial, eine allgemeinere Einschätzung der produktiven Kompetenzen zu liefern. Dies würde es ermöglichen, die Kompetenzen der Schüler:innen untereinander zu vergleichen, ohne jedoch zu wissen, ab welcher Punktzahl ein Text einem A2 entspricht.
Aber was ist eigentlich lexikalische Vielfalt und wie kann man sie messen ?
Die lexikalische Vielfalt kann definiert werden als die Vielfalt von Wörtern, die eine Person in ihrem mündlichen oder schriftlichen Ausdruck verwendet (Jarvis 2013). Dabei haben alle Wörter (häufige sowie seltene Wörter, Inhalts- und Funktionswörter) den gleichen Wert. Eine Herausforderung in diesem Forschungsfeld besteht darin, die lexikalische Vielfalt von Texten unterschiedlicher Länge zu vergleichen. Je länger ein Text ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er eine grössere Anzahl an unterschiedlichen Wörtern, aber auch mehr Wiederholungen enthält. Demzufolge haben Forschende mehrere algebraische Masse entwickelt, die so gut wie möglich den Faktor der Textlänge eliminieren. Ein Forschungsziel in diesem Feld ist es, ein geeignetes Mass für die Messung der lexikalischen Vielfalt von spezifischen Texten, zum Beispiel von kurzen Schüler:innentexten, zu finden.
Aus diesem Grund habe ich mir neben dem Vergleich der Schüler:innenkompetenzen in beiden Fremdsprachen ein zweites Forschungsziel gesetzt, und zwar, einen Beitrag zur Validierung algebraischer Masse zu leisten. Daher lautete eine meiner Forschungsfragen: «Welches Mass eignet sich für die Messung der lexikalischen Vielfalt von Texten von Sekundarschüler:innen in den Fremdsprachen?».
Wie bist du vorgegangen, um diese zwei Forschungsfragen zu beantworten ?
Zuerst habe ich einen Textkorpus durch eine Schreibaufgabe zu einem kurzen stummen Videoclip generiert. Somit habe ich 386 Aufsätze von 183 Schüler:innen gesammelt. Die Aufsätze fielen in den verschiedenen Sprachen in Bezug auf die Anzahl der Wörter im Text sehr unterschiedlich aus (vgl. Tabelle 1). Der Hauptteil des Korpus besteht aus Aufsätzen von Fremdsprachenlernenden aus dem Oberwallis. Der Rest besteht aus Aufsätzen von Schüler:innen der Romandie fürs Französische und aus den USA sowie Grossbritannien fürs Englische. (vgl. Tabelle 1). Dieser Teil des Korpus dient als Referenz. Er wurde erhoben, um die Abweichung zwischen den Lernenden mit der jeweiligen Unterrichtssprache und Lernenden mit der Fremdsprache zu vergleichen. Das war aus methodologischen Gründen wichtig, weil Ergebnisse aus algebraisch berechneten Massen der lexikalischen Vielfalt in den unterschiedlichen Sprachen nicht direkt miteinander verglichen werden sollen (typologische Unterschiede zwischen den Sprachen, wie die Morphosyntax, beeinflussen das Ergebnis).
Untersuchungsgruppe | Vergleichsgruppe | ||||
Französisch (N=88) | Englisch (N=89) | Deutsch (N=90) | Französisch (N=37) | Englisch (N=43) | |
Min. Anzahl Tokens | 8 | 15 | 34 | 33 | 8 |
Mittelwert | 72 | 117 | 139 | 105 | 104 |
Max. Anzahl Tokens | 223 | 380 | 362 | 194 | 565 |
Die Datenanalyse dieser Texte umfasst einerseits die algebraische Berechnung der lexikalischen Vielfalt durch drei in diesem Forschungsfeld bekannte Masse. Einer davon ist der Guiraud-Index. Dieser wird durch die Division der Anzahl unterschiedlicher Wörter im Text durch die Wurzel der Gesamtanzahl der Wörter im Text berechnet. Laut früherer Forschung ist der Guiraud-Index für die Analyse kurzer Schüler:innentexte geeignet (Vanhove et al., 2019). Ich werde hier nicht näher auf die anderen beiden eingehen.
Andererseits wurden die Texte bezüglich des Erfüllens der Aufgabenstellung, der Rechtschreibung, der Grammatik und der lexikalischen Vielfalt durch angehende deutschsprachige Lehrpersonen mit einem Mindestniveau B2 in den Fremdsprachen bewertet. Ausserdem habe ich zusätzliche Parameter, wie etwa die Notendurchschnitte des letzten Schuljahres der obligatorischen Schulzeit im Bereich Schreiben bei den jeweiligen Lehrpersonen in den untersuchten Sprachen erfasst. Ich habe mich aber auch dafür interessiert, inwiefern Lernende mit einer hohen lexikalischen Vielfalt in der Unterrichtssprache auch in der ersten und zweiten Fremdsprache eine hohe lexikalische Vielfalt aufweisen.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie?
Die Ergebnisse deuten erstens darauf hin, dass die Evaluationen der lexikalischen Vielfalt durch Lehrpersonen mithilfe von algebraischen Massen ziemlich gut vorhergesagt werden kann. So lässt sich beispielsweise mit untenstehendem Korrelationsdiagramm eine fast identische positive Korrelation zwischen dem Guiraud-Index (Y-Axis) und den durchschnittlichen Ratings (4-6 Ratings pro Text auf eine 8-stufige Skala) durch die angehenden Lehrpersonen (Rating, X-Axis) der lexikalischen Vielfalt für alle untersuchten Sprachen aufzeigen (Jeder Punkt in der Grafik stellt eine:n Schüler:in dar. Die Skalen der beiden Achsen sind unterschiedlich, deshalb entspricht eine 3 auf einer Achse nicht unbedingt einer 3 auf der anderen Achse.). Dabei erwies sich der Guiraud-Index als der wichtigste Prädiktor für die Evaluation der lexikalischen Vielfalt von Schüler:innentexten durch angehende Lehrpersonen, unabhängig von der Sprache. Dies bestätigt vorherige Forschungsergebnisse (Vanhove et al., 2019).
Zweitens zeigen die Ergebnisse, dass die lexikalische Vielfalt mit weiteren Kriterien des Textratings wie auch mit den Notendurchschnitten im Bereich Schreiben korrelieren. Zudem kann bestätigt werden, dass es wahrscheinlich ist, dass Schüler:innen mit einer hohen lexikalischen Vielfalt in Deutsch auch in der ersten und zweiten Fremdsprache eine hohe lexikalische Vielfalt aufweisen, denn es liegt eine positive lineare Beziehung zwischen der lexikalischen Vielfalt in der Unterrichtssprache und den beiden Fremdsprachen vor. Also je höher die Ergebnisse in der Schulsprache, desto höher die Ergebnisse in den Fremdsprachen.
Drittens sieht der Vergleich zwischen der lexikalischen Vielfalt des Referenzkorpus und des Lernerkorpus im Französischen und Englischen anders aus. Dies wird in folgender Grafik mit deutlich höheren Werten für den Guiraud-Index (Y-Axis) in der Vergleichsgruppe (0 auf der X-Axis) gegenüber der Untersuchungsgruppe (1 auf der X-Axis) in der ersten Fremdsprache Französisch (rechte Graphik) im Vergleich zur zweiten Fremdsprache Englisch (linke Graphik) veranschaulicht. Die Texte der Untersuchungsgruppe in der zweiten Fremdsprache Englisch weisen eine tendenziell höhere lexikalische Vielfalt auf als die Textproduktionen in der ersten Fremdsprache Französisch. Die lexikalische Vielfalt der Untersuchungsgruppe unterscheidet sich in den englischen Aufsätzen kaum von der Vergleichsgruppe, während die französischen Aufsätze der Untersuchungsgruppe eine sichtlich geringere lexikalische Vielfalt aufweisen als diejenigen der Lernenden aus der Romandie.
Ein ähnliches Bild ergab sich aus den Resultaten der Gutachter:innen. Die Ergebnisse der Fremdsprachenlernenden im Englischen liegen näher an denen der Vergleichsgruppe als dies im Französischen der Fall ist.
Die Ergebnisse der Fremdsprachenlernenden im Englischen liegen näher an denen der Vergleichsgruppe als dies im Französischen der Fall ist. So weisen die Textproduktionen der Oberwalliser Schüler:innen in der zweiten Fremdsprache Englisch tendenziell eine höhere lexikalische Vielfalt auf als die Textproduktionen in der ersten Fremdsprache Französisch.
Sebastian Salzmann
Wie interpretierst du diese Ergebnisse im aktuellen Kontext des Fremdsprachenlernens? Welchen Beitrag leistet diese Studie?
Diese Analysen geben uns Hinweise auf Unterschiede in der lexikalischen Vielfalt zwischen den beiden unterrichteten Fremdsprachen am Ende der obligatorischen Schulzeit. Meine Untersuchung suggeriert, dass die Kompetenzen in Englisch auch in diesem Kontext besser sind als in Französisch, auch wenn Französisch vor Englisch eingeführt wird (vgl. Peyer et al., 2016 für die BKZ-Gebiete). Der ausserschulische Kontakt mit der Fremdsprache und die Motivation für die jeweiligen Sprachen spielen dabei vermutlich eine Rolle. Allerdings ist es schwierig, Schlussfolgerungen bezüglich der lexikalischen Vielfalt in Verbindung mit den im Lehrplan 21 definierten Kompetenzen zu ziehen.
Nichtdestotrotz fordert dieses Ergebnis dazu auf, zukünftige Überlegungen zur Verbesserung der Didaktik im Fremdsprachenunterricht anzustellen, um die angestrebten Kompetenzen des Lehrplans erreichen zu können. Weitere Forschungsarbeiten sind also notwendig, um einerseits die Gründe für die unterschiedliche lexikalische Vielfalt in den beiden Sprachen zu erforschen, wie die Motivation oder der ausserschulische Kontakt mit der Fremdsprache, und um anderseits geeignete Unterrichtsmethoden zu entwickeln, damit die Schüler:innen dahingehend begleitet werden können, ein ausgewogenes Niveau in beiden Sprachen zu erlangen.
Welche praxisbezogenen Folgen legt diese Arbeit nahe?
Die praktischen Perspektiven meiner Untersuchungen könnten in der Anwendung des Guiraud-Index als Indikator für schulische Leistungen liegen. Basierend auf den Ergebnissen stelle ich zudem die Hypothese auf, dass eine gezielte Förderung des Wortschatzes auch in der Schulsprache sinnvoll sein könnte, da die Leistungen in der Schulsprache und die beiden Fremdsprachen positiv korrelieren. Eine solide Grundlage im Wortschatz der Schulsprache könnte sich also auch positiv auf den Erwerb von Fremdsprachen auswirken und somit die sprachlichen Fähigkeiten insgesamt verbessern. Um jedoch festzustellen, ob da tatsächlich ein Kompetenztransfer stattfindet, sind weitere Untersuchungen erforderlich.
Die praktischen Perspektiven meiner Untersuchungen könnten in der Anwendung des Guiraud-Index als Indikator für schulische Leistungen liegen.
Sebastian Salzmann
Herzlichen Dank Sebastian Salzmann!
Weitere Informationen finden Sie in der Masterarbeit von Sebastian Salzmann, die er im Rahmen seines Studiums der Fremdsprachendidaktik verfasst hat: Lexikalische Vielfalt in schriftlichen Produktionen von Schülerinnen und Schülern : Eine vergleichende Untersuchung von subjektiver Einschätzung und ausgewählten Massen lexikalischer Vielfalt in den Fremdsprachen Französisch und Englisch am Ende der obligatorischen Schulzeit
Ausgewählte Quellen:
Jarvis, S. (2013). Capturing the Diversity in Lexical Diversity: Lexical Diversity. Language Learning, 63, 87–106.
Peyer, E., Andexlinger, M., Kofler, K., Lenz, P., Université (Fribourg). (2016). Projekt Fremdsprachenevaluation BKZ:Schlussbericht zu den Sprachkompetenztests. Institut de plurilinguisme, Fribourg (Hrsg.)
Treffers-Daller, J., Parslow, P., & Williams, S. (2016). Back to Basics: How Measures of Lexical Diversity Can Help Discriminate between CEFR Levels. Applied Linguistics, amw009.
Vanhove, J., Bonvin, A., Lambelet, A., & Berthele, R. (2019). Predicting perceptions of the lexical richness of short French, German, and Portuguese texts using text-based indices. Journal of Writing Research, 10(3), Article 3.
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