Tagung rund um die „Mehrsprachigkeit“

Die Pädagogische Hochschule Graubünden hat vom 9. bis 10. November 2023 im Kongresszentrum Davos in Kooperation mit dem Bundesamt für Kultur eine Tagung zu Fragen rund um die Mehrsprachigkeit durchgeführt. Die zahlreichen Beiträge beleuchteten die Mehrsprachigkeit aus einer wissenschaftlichen, unterrichtsbezogenen und kulturpolitischen Perspektive. Ein Kommentar von Vincenzo Todisco (PH Graubünden).

Die Tagung, die von der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR), dem Bundesamt für Kultur (BAK), der PH Wallis und der PH des Kantons Tessin organisiert wurde, diente dazu, Forschungsprojekte und aktuelle Erkenntnisse rund um die Mehrsprachigkeit vorzustellen und deren schulische, bildungspolitische und gesellschaftliche Relevanz zu diskutieren. Aufgrund der Beteiligung des BAK wurden anlässlich der Tagung zahlreiche, vom BAK finanzierte Projekte vorgestellt, was in dieser Form ein Novum darstellt. Forschende, darunter auch Nachwuchsforschende, und Fachdidaktiker*innen aus nationalen und internationalen Hochschulen und Forschungsinstitutionen haben um die 60 Projekte vorgestellt. Die Formate der Tagung waren Einzelbeiträge, Symposien und Poster. Am Abend des ersten Tages wurde eine Podiumsdiskussion mit Exponenten der Wirtschaft, der Politik und der Bildung veranstaltet. Am Freitag fand eine Table ronde zur Förderungspraxis des BAK statt.

Grosse thematische Breite

Die an der Tagung präsentierten Beiträge bildeten eine grosse thematische Breite, allerdings mit einem Schwerpunkt auf die unterrichtsbezogene Perspektive. Zwei Höhepunkte waren die Plenarvorträge von Raphael Berthele und Michel Candelier. In seinem Vortrag hat Berthele aufgezeigt, wie sich in den letzten 150 Jahren in der Sprachwissenschaft und der Sprachpädagogik der Blick auf das individuelle mehrsprachige Repertoire verändert hat. Während Theorien und Konzepte ständig erneuert und ersetzt werden, bleiben bestimmte Argumentationsmuster und Praxen mehr oder weniger unverändert. Einerseits wird erwartet oder gar verlangt, dass die als richtig betrachtete Theorie im Sprachunterricht angewendet wird, andererseits wird angenommen, dass konzeptuelle und pädagogische Innovationen direkte und positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Berthele ist zudem der Frage nachgegangen, inwiefern im Laufe der Zeit die aus dem Sprachenunterricht hervorgehenden pädagogischen und gesellschaftlichen Versprechungen eingelöst wurden.

Der zweite Plenarsprecher, Michel Candelier, hat auf die Komplexität des schulischen Fremdsprachenunterrichts hingewiesen und eine Übersicht der Begrifflichkeiten im Kontext der Mehrsprachigkeit in der Schule präsentiert. Es geht dabei um den Einbezug mehrerer Sprachen im Klassenzimmer, was unter dem Deckmantel der Didaktik der Mehrsprachigkeit oder der Pluralen Ansätze für Sprachen und Kulturen subsumiert wird. Diese Ansätze sollen dazu führen, dass die Lernenden eine grosse Vielfalt an Kenntnissen, Verhaltensweisen und Fertigkeiten entwickeln, die zum Sprachenlernen und einer möglichst ganzheitlichen Bildung gehören.

Neben den Plenarvorträgen beinhaltete das Tagungsprogramm zahlreiche Einzelbeiträge, Symposien und Postersessionen, die auf sieben Themenfelder verteilt waren: 1) Bilingualer Unterricht, 2) Mehrsprachigkeitsdidaktik, 3) Mehrsprachigkeit und Digitalisierung, 4) Integrative Sprachprojekte, 5) Lehrer*innenbildung und Mehrsprachigkeit, 6) Bildungschancen und Mehrsprachigkeit und 7) Mehrsprachige Erziehung. Die Beiträge beschäftigten sich unter anderem mit der Frage, wie neuere Konzepte oder Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik in vielsprachigen schulischen Kontexten umgesetzt werden, wie ein effizienter Fremdsprachenunterricht aufzubauen ist, oder wie Mehrsprachigkeit übergeordnet aus einer sprach- und gesellschaftspolitischen Perspektive angegangen werden kann.

Aus den zahlreichen Einzelbeiträgen, Symposien und Postersessionen über die sieben Themenfelder hinweg haben sich folgende Schwerpunkte ergeben:

Aus der Optik der Weiterentwicklung des Erst- und Fremdsprachenunterrichts und der Mehrsprachigkeitsdidaktik sind immersive und teilimmersive Ansätze (CLIL/bilingualer Sachfachunterricht) von grosser Bedeutung. Die zweisprachigen Schulen setzen solche Konzepte um. Der Lehrplan 21 empfiehlt teilimmersive Sequenzen auch an einsprachigen Schulen. Die an der Tagung vorgestellten Projekte zeigen, dass es viele Ausgestaltungsformen des bilingualen Unterrichts gibt. Die Tagung war ein wichtiger Moment, um die Diskussion und die Bemühungen bezüglich der Nutzung von Synergien zwischen den verschiedenen bilingualen Modellen und Gestaltungsformen voranzutreiben.

Die an der Tagung vorgestellten Projekte zeigen, dass es viele Ausgestaltungsformen des bilingualen Unterrichts gibt. Die Tagung war ein wichtiger Moment, um die Diskussion und die Bemühungen bezüglich der Nutzung von Synergien zwischen den verschiedenen bilingualen Modellen und Gestaltungsformen voranzutreiben.

Um der komplexen sprachlichen und kulturellen Situation an Schweizer Schulen gerecht zu werden, bietet sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik als vielversprechender Ansatz an. Allerdings herrscht keine Einigkeit und noch zu wenig empirisches Wissen bezüglich der Umsetzungsformen und der Wirksamkeit dieses Ansatzes. Die Rolle der Lehrpersonen ist dabei entscheidend. Allen unterschiedlichen Projekten, die an der Tagung vorgestellt wurden, ist gemein, dass sie versuchen, mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze gewinnbringend in die Schulzimmer zu bringen und deren Umsetzung wissenschaftlich zu erforschen. Bezüglich dieser Bestrebungen wird den Lehrpersonen eine aktive Rolle zugeschrieben.

An der Tagung wurde mehrmals betont, dass die Schweiz ein Migrationsland ist. Dadurch ist es zu einem vielsprachigen Land geworden. Für die Integration von Kindern mit Migrations- bzw. Herkunftssprachen ins Schweizer Schulsystem stellen sich Herausforderungen. HSK-Kurse bieten Lösungsansätze, die aber nicht systematisch und systemkonform genutzt werden. Die Tagung hat die Möglichkeit geboten, Lösungsansätze im Bereich der Integration von anderssprachigen Kindern kennenzulernen und zu diskutieren.

Die Tagung hat die Möglichkeit geboten, Herausforderungen und Lösungsansätze im Bereich der Schulbildung von Kindern mit Herkunftssprachen oder autochthonen Minderheitensprachen kennenzulernen und zu diskutieren.

An die Migration ist die Problematik der Bildungschancen gekoppelt. Ähnliche Herausforderungen stellen sich für autochthone Sprachminderheiten wie in Italienisch- und Romanischbünden. Für diese Teile der Bevölkerung bedeutet Deutsch eine Notwendigkeit, aber auch eine Herausforderung. An der Tagung wurden Forschungsprojekte vorgestellt, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Es zeigt sich, dass noch weitere Forschungen notwendig sind, um wirksame Lösungsansätze erarbeiten zu können.

Schluss

Aufgrund der vielen aufgeworfenen Fragen konnte man die Tagung mit ebenso vielen offenen Fragen verlassen, aber ist nicht gerade das Zweifeln der Motor der Wissenschaft? Die Tagung hat gezeigt, dass viel und auf systematische Weise geforscht wird. Damit kann verhindert werden, dass bei sprachbildungspolitischen Themen aufgrund von impressionistischen und ideologischen Überlegungen oder Wunschvorstellungen argumentiert und Überzeugungsarbeit geleistet wird. Fachdidaktiken müssen sich weiterhin als vernetzende wissenschaftliche Disziplin konsolidieren. Zur Konsolidierung einer wissenschaftlichen Disziplin, einer jungen Disziplin nota bene, gehören auch Tagungen wie die von Davos.

Durch systematische Forschung kann verhindert werden, dass bei sprachbildungspolitischen Themen aufgrund von impressionistischen und ideologischen Überlegungen oder Wunschvorstellungen argumentiert und Überzeugungsarbeit geleistet wird. Fachdidaktiken müssen sich weiterhin als vernetzende wissenschaftliche Disziplin konsolidieren.

Über den Autor

Vincenzo Todisco leitet di Sonderprofessur für integrierte Mehrsprachigkeitsdidaktik mit Schwerpunkt Italienisch an der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR) und hat beigetragen, die Tagung vom 9. und 10. November in Davos inhaltlich zu konzipieren. Er war überdies Tagungsbeobachter und hat am Ende der Tagung zusammen mit Anna Schnitzer und Rico Cathomas ein persönliches Fazit zur Tagung vogetragen.

Graphic recording

Das Titelbild ist eine grafische Zusammenfassung der Tagung von Peter Holliger.


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