Sprachaustausch und zweisprachiger Unterricht im Fokus: Ein Interview mit Sybille Heinzmann und Daniel Elmiger [Interview]

Sybille Heinzmann (Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz) widmete sich in den letzten Jahren intensiv dem Thema Sprachaustausch. Daniel Elmiger (Professor an der Université de Genève) hingegen befasste sich mit Immersion und der Forschung zum Thema zweisprachiger Unterricht. Die beiden haben kürzlich ihre Forschungsresultate publiziert. Teilweise stehen auch Daten bzw. kritische Literaturübersichten der Öffentlichkeit zur Verfügung. Martina Zimmermann (HEP Vaud) hat ihnen einige Fragen gestellt.

CeDiLE: Immersion, zweisprachiger Unterricht und Sprachaustausch werden in der Gesellschaft als “ideale” Möglichkeiten erachtet, um Fremdsprachenkenntnisse zu erlernen oder zu verbessern. Wie stehen Sie zu dieser gesellschaftlich verbreiteten Sichtweise?

Daniel Elmiger (DEL): Zweisprachiger Unterricht entspricht viel mehr der Art und Weise, wie wir zuhause eine (Familien-)Sprache lernen: Nicht, indem die Sprache systematisch gelernt wird, sondern indem wir mit der Sprache leben. Im zweisprachigen Unterricht steht die Zielsprache nicht im Zentrum, sondern das Fach. Doch um die Fachinhalte zu verstehen und im Unterricht mitzuarbeiten, müssen sich die Schüler_innen auf die Immersionssprache einlassen. Aus diesem Grund ist zweisprachiger Unterricht eine sehr gute Ergänzung des schulischen Fremdsprachenunterrichts.

Vorsichtig sollte man bei den Erwartungen sein, die mit dem Adjektiv “zweisprachig” verbunden sind: Aussenstehende denken manchmal, dass mit einem bilingualen Lehrgang eine sogenannt “perfekte” Zweisprachigkeit erreicht wird. Das ist mit schulischen Lehrgängen nicht möglich. Allerdings sind die Kinder und Jugendlichen, die einen zweisprachigen Lehrgang besucht haben, meistens so sehr mit der Immersionssprache vertraut, dass sie sie selbständig weiterverwenden und ihre Kenntnisse ausbauen können.

Aussenstehende denken manchmal, dass mit einem bilingualen Lehrgang eine sogenannt “perfekte” Zweisprachigkeit erreicht wird. Das ist mit schulischen Lehrgängen nicht möglich.

Daniel Elmiger

Sybille Heinzmann (SH): Ähnlich wie mein Kollege, kann ich dieser gesellschaftlich verbreiteten Sichtweise mit Einschränkungen beipflichten. Sprachaustausch wird gemeinhin genau deshalb als “ideale” Möglichkeit erachtet, Fremdsprachenkenntnisse zu erlernen oder zu verbessern, weil es sich dabei um eine immersive Lernsituation – ein sogenanntes Sprachbad handelt. Die Schüler_innen leben mit der Sprache und verwenden sie in vielfältigen authentischen Situationen. Dies verspricht eine Steigerung der Intensität des Sprachkontakts weit über das hinaus, was mit zwei bis drei Lektionen pro Woche in der Schule machbar ist. Daher birgt Sprachaustausch ein grosses Potential für den Fremdsprachenerwerb.

Gleichzeitig muss man sich auch hier vor überzogenen Erwartungen und Verallgemeinerungen in Acht nehmen. Aktuelle Forschung zeigt, dass das „Eintauchen“ in die andere Sprachgemeinschaft nicht immer so automatisch oder mühelos vonstatten geht, wie man sich das erhofft, und dass das Ausmass, in dem Austauschschüler_innen in Kontakt mit Sprecher_innen der Zielsprache treten, sehr unterschiedlich sein kann. Dies hängt einerseits mit persönlichen Faktoren (Alter, Ziele, Motivation, Persönlichkeit) zusammen, andererseits aber auch damit, dass Sprachaustausch ein Überbegriff für ein sehr breites Spektrum an Programmen ist, die sich hinsichtlich Formats, Dauer, Intensität, etc. unterscheiden. 

Aktuelle Forschung zeigt, dass das „Eintauchen“ in die andere Sprachgemeinschaft nicht immer so automatisch oder mühelos vonstatten geht, wie man sich das erhofft, und dass das Ausmass, in dem Austauschschüler_innen in Kontakt mit Sprecher_innen der Zielsprache treten, sehr unterschiedlich sein kann.

Sybille Heinzmann

In Bezug auf den schweizerischen Kontext haben Sie darauf hingewiesen, dass aufgrund der Vielfalt an Immersionsprogrammen, zweisprachigem Unterricht und Sprachaustauschoptionen und deren Anpassung an lokale Gegebenheiten die Vergleichbarkeit eingeschränkt ist. Gibt es einige Punkte, die sich trotz dieser Vielfalt verallgemeinern lassen?

SH: Wie bereits angemerkt, ist Sprachaustausch ein Überbegriff für ein breites Spektrum an Angeboten. Diese unterscheiden sich in zahlreicher Hinsicht. Es gibt Programme mit und ohne Ortsverschiebungen sowie Mischformen. Es gibt reziproke und einseitige Programme. Es gibt verschiedene Formate wie etwa Einzelaustausch, Klassenaustausch, Halbklassenaustausch oder Rotationsaustausch, bei welchem zeitversetzt jeweils einige wenige Schüler_innen aus einer Klasse die Partnerklasse besuchen. Programme variieren auch stark in ihrer Dauer – von der eintägigen Kulturreise bis zum mehrmonatigen Aufenthalt. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Programme auch unterschiedliche Ziele verfolgen. Nicht immer steht der Fremdsprachenerwerb (allein) im Zentrum. Es kann auch vordergründig um die Entwicklung personaler (z.B. Selbständigkeit) oder interkultureller Kompetenzen (z.B. Offenheit, Anpassungsfähigkeit) gehen. Dabei steht ausser Frage, dass nicht alle Programme für alle Lernziele in demselben Ausmass wirksam sein können. In der Tat erschwert diese Vielfalt verlässliche Aussagen darüber, was “Sprachaustausch” leisten kann, da es eben nicht den einen Sprachaustausch gibt. Die Vielfalt der Programme bietet andererseits auch die Chance langfristig gewisse Faktoren herauszuschälen, die für die Lernwirksamkeit bedeutend sind und die sich verallgemeinern lassen. So deutet die bisherige Forschung beispielsweise eindeutig darauf hin, dass die Dauer eines Austauschprogramms einen wesentlichen Beitrag zur Wirksamkeit leistet.

DEL: Auch die Unterschiede innerhalb der zweisprachigen Lehrgänge sind enorm: Nicht einmal der Begriff “zweisprachiger Unterricht” wird einheitlich verwendet. Manchmal bezieht er sich auf Lehrgänge, bei denen manche Fächer ganz in einer anderen Sprache unterrichtet werden und manchmal auf solche, in denen innerhalb einer Lektion zwischen zwei Sprachen gewechselt wird.

Allen Lehrgängen ist jedoch gemeinsam, dass die Zielsprache zwar präsent ist, aber nicht im Zentrum des Unterrichts steht. Denn es geht in erster Linie um den Fachunterricht.

Manchmal wird der Begriff CLIL (Content and Language Integrated Learning, integriertes Fach- und Sprachenlernen) auch für den inhaltsorientierten Fremdsprachenunterricht gebraucht. Dort geht es jedoch grundsätzlich um andere Ziele, nämlich die des Sprachenunterrichts. Deshalb bleibt es schwierig, Modelle und Lehrgänge zu vergleichen, da dieselben Begriffe ganz unterschiedlich gebraucht werden. Man muss folglich oft genauer hinschauen, was mit „zweisprachiger Unterricht“ eigentlich bezeichnet wird.

Herr Elmiger, welche Anzeichen deuten auf eine schleichende Anglisierung im Schweizer Bildungssystem hin, insbesondere im zweisprachigen Unterricht?

Wir können eine gewisse Spannung zwischen verschiedenen Logiken beobachten. Viele Schulen bieten Lehrgänge mit Englisch an, weil sie dafür Lehrpersonen haben und Englisch als internationale Sprache wichtig und beliebt ist. Demgegenüber haben die Kantone natürlich die Verpflichtung, die nationale Verständigung mittels Landessprachen zu fördern. Dazu gehört meiner Meinung auch die Förderung von zweisprachigen Lehrgängen mit einer Landessprache ab Volksschulstufe. Bisher hat der fehlende Überblick über die gesamtschweizerische Situation dazu geführt, dass niemand wusste, wie einseitig zweisprachiger Unterricht umgesetzt wird: So ist auf der Sekundarstufe II bei den meisten neuen Lehrgänge Englisch die Immersionssprache; die Landessprachen scheinen keine grosse Rolle zu spielen. Viele Lehrgänge wurden lokal geplant. Eine gewisse Koordination sollte aber auch auf nationaler Ebene vorgesehen werden, damit auch die regionalen und landesweiten Anforderungen an das Sprachenlernen berücksichtigt werden können.

Mein persönlicher Vorschlag wäre der folgende: In der Volksschule sollte zweisprachiger Unterricht mit einer Landessprache beginnen, um dem Gebot der Verständigung zwischen den Landessprachen zu genügen. Das kann nach und nach geschehen, ohne Druck auf Kantone und Gemeinden. Ab der Sekundarstufe II, d. h. in der Berufsbildung oder im Gymnasium, kann Englisch als zweite Immersionssprache hinzukommen. Idealerweise würden so mit der Zeit dreisprachige Lehrgänge entstehen und das Sprachenlernen in der Schweiz beleben.

Für wen ist Ihre Forschung relevant?

SH: Die Literatursynthese zur Wirksamkeit von Sprachaustausch in der obligatorischen Schule ist primär für drei Zielgruppen relevant. Einerseits dient sie Forschenden, da sie bisherige Forschungsarbeiten für diese doch international noch wenig untersuchte Zielgruppe (Primar-, Sekundarschullernende) synthetisiert und Forschungslücken identifiziert. Andererseits ist sie für Förderorganisationen wie Movetia zentral, weil die Literatursynthese sie dabei unterstützt, empirisch fundierte und lernwirksame Programme anzubieten und deren Nutzen aufzuzeigen. Drittens ist die Literatursynthese auch für praktizierende Lehrpersonen oder Schulleitungen interessant, die an ihrer Schule Sprachaustausch praktizieren möchten.

Wir hoffen natürlich, dass die noch offenen Fragen bezüglich des Sprachenlernens, aber auch des Sachfacherwerbs, mit Hilfe der kritischen Literaturübersicht künftig vertieft angegangen werden.

Daniel Elmiger

DEL: Die Forschung richtet sich an alle, die sich mit dem Thema zweisprachiger Unterricht befassen. Insbesondere mag sie Personen inspirieren, die sich beruflich mit dem Auf- oder Ausbau von bilingualen Lehrgängen auseinandersetzen. Die Bibliografie ist wohl vor allem für die Forschung wichtig und nützlich, da sie verschlagwortet ist und sich leicht sortieren und durchsuchen lässt.

Wir hoffen natürlich, dass die noch offenen Fragen bezüglich des Sprachenlernens, aber auch des Sachfacherwerbs, mit Hilfe der kritischen Literaturübersicht künftig vertieft angegangen werden.

Was hat Sie bei der Auseinandersetzung mit diesen Themen besonders beeindruckt oder überrascht?

DEL: Einerseits die Tatsache, dass der zweisprachige Unterricht in der Schweiz immer mehr Verbreitung findet, ohne dass die Bildungsverantwortlichen einen Überblick über alle Schulstufen haben. Andererseits aber auch die Begriffsvielfalt, wie „zweisprachiger Unterricht“ (das ist der Oberbegriff, den wir verwendeten), „Immersion“, „CLIL“ oder andere Bezeichnungen. Damit werden in verschiedenen Publikationen ganz unterschiedliche Konzepte bezeichnet. So spricht man etwa von „Immersion“, wenn ein bedeutender Teil des Unterrichts in der Zielsprache stattfindet. Man taucht also lange und tief in die Sprache ein. Doch man spricht auch von „immersiven Inseln“, wenn nur einzelne Sequenzen in einer anderen Sprache unterrichtet werden. Hier hält man – um beim selben Bild zu bleiben– für einige Zeit ein paar Zehen ins Wasser. Da passt vielleicht der Begriff „immersiv“ nicht.

SH: Beim Zusammentragen der existierenden Literatur zur Wirksamkeit von Sprachaustausch in der obligatorischen Schule in verschieden Sprachen (Deutsch, Französisch und Englisch) hat uns überrascht, wie vielfältig die Begrifflichkeiten in jeder einzelnen Sprache und wie unterschiedlich die untersuchten Programme sind. Das schränkt die Vergleichbarkeit von Studien stark ein. Des Weiteren hat uns überrascht, wie wenige Studien tatsächlich existieren, die über ein methodisches Design verfügen, welches solide Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Programmen zulässt. Diese beiden Erkenntnisse haben uns in der Überzeugung gestärkt, dass im Bereich des Sprachaustauschs in der obligatorischen Schulzeit noch ein erheblicher Bedarf an systematischer Forschung besteht.

Beim Zusammentragen der existierenden Literatur zur Wirksamkeit von Sprachaustausch in der obligatorischen Schule in verschieden Sprachen (Deutsch, Französisch und Englisch) hat uns überrascht, wie vielfältig die Begrifflichkeiten in jeder einzelnen Sprache und wie unterschiedlich die untersuchten Programme sind […]. Des Weiteren hat uns überrascht, wie wenige Studien tatsächlich existieren, die über ein methodisches Design verfügen, welches solide Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Programmen zulässt.

Sybille Heinzmann

Besten Dank, Sybille Heinzmann und Daniel Elmiger!

Weiterführende Informationen und Ressourcen auf der Webseite des wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit :


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Photo de Armand Khoury sur Unsplash

3 Kommentare

  1. Sehr geehrte Frau Heizmann, Frau Zimmermann, Herr Elmiger
    Ihr Interview hat mein Interesse geweckt und ich teile weitgehendst Ihre Feststellungen und Schlussfolgerungen. Besten Dank. Hingegen vermisse ich eine weitergehende Würdigung der Austauschpädagogik hinsichtlich der Persönlchkeitsentwicklung und hinsichtlich des Verständigungsgedanken im weitesten Sinne. Ausschlaggebend für die Entwicklung des schweizerischen
    Binnenasstausches für Klassen war die Bemerkung von Peter Aeschlimann, der im Anschluss an den Austausch Kerzers- Estavayer-le- Lac dem Fernsehjournalisten Toni Zwyssig erklärte, das eindrücklichste Schulerlebnis seiner 9 jährigen Schulkarriere sei der Klassenaustausch(1976/77) gewesen. Aeschlimann hat seine Beurteilung gewiss nicht am Thema Spracherwerb gemessen, vielmehr war für ihn das Eintauchen in eine andere Kultur, der Kontakt mit anderssprachigen Gleichaltrigen, die Reise über die Sprachgrenze, das Kennenlernen der freiburgischen Vielfalt eine eindrückliche Erfahrung. Und was für Aeschlimann damals galt, das hat seine Gültigkeit auch für die weiteren Klassenaustausche bewahrt.
    Ich meine demnach, wenn man sich über Sprachaustausch Gedanken macht, dann dürfte der Gesichtspunkt Verständigung und Persönllchkeitsentwicklung nicht zu kurz kommen. Es wäre vielleicht zu überlegen, ob dieses Thema nicht Forschungsgegenstand werden könnte, um allenfalls dem Austauschgedanken weiteren Schub zu verleihen

  2. Sehr geehrter Herr Johner

    Das ist effektiv ein Gesichtspunkt, der auch uns wichtig scheint: Danke, dass Sie ihn hier hervorheben. Jede Forschungsarbeit muss sich auf gewisse Aspekte beschränken – so auch die beiden Projekte, um die es im Interview ging. Das bedeutet natürlich nicht, dass anderes, etwa die von Ihnen genannte Persönlichkeitsentwicklung, nicht auch wichtig ist!

    Mit besten Grüssen, Daniel Elmiger

  3. Sehr geehrter Herr Johner

    Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Interview und an der Thematik der Austauschpädagogik. Auch ich gehe selbstverständlich mit Ihnen einig, dass ein Sprachaustausch nicht nur oder auch nicht immer in erster Linie auf den Spracherwerb abzielt und dass damit auch Entwicklungen im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung und der Verständigung verfolgt werden können. Während der Bereich der Verständigung in der Literatursynthese durchaus seinen Platz fand (Wirksamkeit von Sprachaustausch für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen), wurde der Bereich der Persönlichkeitsentwicklung tatsächlich explizit ausgeklammert. Dies allerdings nicht, weil er nicht dieselbe Aufmerksamkeit verdient hätte, sondern in der Tat, weil die Ressourcen beschränkt waren. Es wäre sicherlich wünschenswert, in Zukunft auch einen Forschungsüberblick zur Persönlichkeitsentwicklung im Zusammenhang mit Sprachaustausch zu erstellen. Wir sind bei der Literaturrecherche für unsere Synthese auf ein paar wenige Studien in diesem Bereich gestossen. Insgesamt scheint das Feld aber noch nicht intensiv für diese jüngeren Lernenden erforscht worden zu sein. In diesem Sinne wäre hier weitere Forschung sicher wünschenswert.

    Mit besten Grüssen
    Sybille Heinzmann

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