In der ersten Ringveranstaltung tauschen sich zwei Rätoroman:innen aus der Diaspora rumantscha aus – und zwar auf Deutsch. Die Schriftstellerin Viola Cadruvi engagiert sich vielseitig für das Rätoromanische, und die Soziolinguistin Claudia Cathomas erforscht die Sprachpraktiken rätoromanischer Familien in der Deutschschweiz. In einem gutgelaunten und offenen Gespräch geben sie ein differenziertes Bild der Situation von Familien in der Diaspora rumantscha wieder und besprechen die Herausforderungen, die entstehen, wenn eine Minderheitssprache an die nächste Generation weitergegeben werden soll.
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Im lebhaften Gespräch berichten Claudia Cathomas und Viola Cadruvi, wie sie die Pflege und Weitergabe des Rätoromanischen an die nächste Generation in der Diaspora rumantscha erleben. Sie erzählen von ihrem mehrsprachigen Alltag , – und vergleichen ihre Entscheidungen und Erfahrungen mit dem, was bisher aus der Forschung bekannt ist.
Von einer Metapher zur nächsten öffnet sich die Welt der Diaspora rumantscha in ihrer ganzen Vielfalt: Deutschschweizer:innen, die mit einem Elternteil Rätoromanisch gelernt haben, neu zugezogene Bündner:innen und «New Speakers», die Rätoromanisch als Erwachsene lernen.
Inhalt des Podcasts
Kap. 1 Einführung von Raphael Berthele
Kap. 2 Die rätoromanische Familie als Insel
Kap. 3 Die rätoromanische Familie als Schiff mit strengem Kapitän
Kap. 4 Einstellungen zur Erziehung
Kap. 5 Rätoromanische Sprachweitergabe als Krampf
Kap. 6 Ideologien…
Kap. 7 …und die Grenzen der Realität
Kap. 8 Die Diaspora rumantscha und das Code-Switching
Einblicke in die Diskussion mit dem Publikum
Oft wird behauptet, Eltern sollen mit ihren Kindern ihre Erstsprache, ihre Herzsprache, sprechen, nämlich die Sprache, in der sie die höheren sprachlichen Kompetenzen besitzen. Solche Äusserungen können für Verwirrung sorgen. Ist die Erstsprache immer die, in welcher die Sprechenden über die höheren Kompetenzen verfügen? Können Eltern gute Gründe haben, ihre Erstsprache nicht weiterzugeben?
Gerade bei Rätoroman:innen kommen diese Fragen immer wieder auf: Wenn sie die Sprache nicht weitergeben, wer sonst?
Für viele von ihnen ist Rätoromanisch wohl eine Herzsprache, weshalb ihre Weitergabe als Verpflichtung betrachtet wird. Nichtdestotrotz betrachten viele Rätoroman:innen (Schweizer-)Deutsch als ihre «starke» Erstsprache – so zum Beispiel Viola Cadruvi und Claudia Cathomas, die erst an der Universität wirklich gelernt haben, Rätoromanisch zu schreiben.
Die «Lieblingsminderheit der (Deutsch-) Schweiz»
Claudia Cathomas
Nicht nur rätoromanische Sprecher:innen neigen dazu, diese Sprache in ihrem Herzen zu schliessen, Rätoroman:innen können sich sogar als «Lieblingsminderheit der (Deutsch-) Schweiz» erleben (Claudia Cathomas), sie werden mit Begeisterung von ihrer Deutschschweizer Umgebung ermuntert, die Sprache weiterzugeben, was auf eine positive Einstellung gegenüber der Sprachgemeinschaft hindeutet, gleichzeitig aber auf die Sprecher:innen Druck ausüben kann.
Wie ein Elternteil eine nicht lokale Sprache in der Familie fördert, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab. Heutige Eltern der Diaspora rumantscha haben bereits beobachtet, dass viele Kinder zwar die Sprache verstehen, diese jedoch häufig wenig sprechen und gar nicht schreiben werden, wenn die Sprache nicht aktiv gefördert bzw. gefordert wird. Viele Rätoroman:innen in der Deutschschweiz zeigen in dieser Hinsicht eine starke Bereitschaft, Orte für den sozialen und kulturellen Austausch zu schaffen: «Wenn zwei Rätoromanen zusammenkommen, gründen sie einen Verein» (Viola Cadruvi)! Die Weitergabe des Rätoromanischen bereitet ihnen im Alltag offenbar teilweise Mühe, die Motivation vieler Eltern(-teile), Rätoromanisch als Familiensprache zu verwenden, ist dennoch sehr hoch.
Wenn zwei Rätoromanen zusammenkommen, gründen sie einen Verein.
Viola Cadruvi
Auch die aktuellen Diskurse in den Medien im Zusammenhang mit dem Aussterben des Rätoromanischen erhöhen den Druck, die Sprache weiterzugeben. Sie motivieren ausserdem «New speakers» dazu, das Rätoromanische zu lernen. Als einen der Gründe für das Lernen der Sprache nennen diese auch den Willen, die Sprache zu retten. Inwiefern haben wir es hier mit Patriotismus oder mit Sprachaktivismus zu tun? Für Viola Cadruvi und Claudia Cathomas trifft der Begriff «Patriotismus» nicht den Punkt: Rätoroman:in zu sein, lässt sich wohl mit einem Deutschschweizer Zugehörigkeitsgefühl vereinbaren. Aber das Rätoromanische soll auch seinen eigenen Platz erhalten. Es soll in Kontakt und in Austausch mit der lokalen Sprache stehen und es darf – wie alle anderen gelebten Sprachen – von Code-Switching und den fabelhaften Wortschöpfungen der rätoromanischen Jugendsprache(n) geprägt sein
Und die Kinder?
Claudia Cathomas erforscht die sogenannte Child Agency:
Welche Sprache wollen die Kinder verwenden? Wie drückt sich das aus?
Welchen Einfluss haben die Kinder auf die Sprache und die Sprachpraktiken der Familie?
Als konkretes Beispiel eignet sich die Reaktion von Kindern auf rätoromanische Kinderbücher. Oft ziehen Kinder modernere Lektüre, die auch von ihren deutschsprachigen Freund:innen gemocht werden, den rätoromanischen Medien vor.
Wie reagieren dann Eltern auf eine mögliche kindliche Präferenz des (Schweizer-)Deutschen?
Das aktuelle Forschungsprojekt des KFM „Family Language Policy rätoromanischer Familien in der Deutschschweiz – Die Rolle von New Speaker:innen und Child Agency bei der Sprachweitergabe von Claudia Cathomas und Flurina Graf vom Institut für Kulturforschung Graubünden wird mehr Hinweise zu solchen Phänomenen und Sprachdynamiken liefern.
Und Rumantsch Grischun?
Viola Cadruvi ist zwar mit Sursilvan aufgewachsen, hat jedoch erst an der Universität gelernt, Rätoromanisch zu schreiben, als sie rätoromanische Sprach- und Literaturwissenschaften zu studieren begann. Sie entschied sich für das Schreiben auf Rumantsch Grischun: eine in den 1980er Jahren vom Linguisten Heinrich Schmid geschaffene Schriftsprache.
Sie schreibt nun auf Rumantsch Grischun, was sich allerdings auf die Verkaufszahlen ihrer Texte negativ auswirkt. Die Schriftsprache ist umstritten, für viele ist es eine «Kunstsprache», eine Sprache ohne Sprecher:innen.
Doch sie macht weiter: ihres Erachtens wird es schon jetzt viel mehr verwendet, als üblicherweise angenommen wird.
Zurzeit schreibt Viola Cadruvi ein Kinderbuch auf Deutsch und Rumantsch Grischun.
Referenzen & Links
Cathomas, Claudia, Flurina Graf, Cordula Seger. 2024. Die Diaspora rumantscha in der Deutschschweiz. Eine Situations- und Bedarfsanalyse – Fokus Familien. Schlussbericht zum Forschungsprojekt. Fribourg: Institut de plurilinguisme (Université de Fribourg).
• Schlussbericht
• Synthese in 5 Sprachen (DE, FR, IT, Rätoromanisch, EN)
Graf, Flurina & Cathomas, Claudia (2025): „New Speaker des Rätoromanischen in der deutschschweizer Diaspora. Erste Erkenntnisse zu ihrer Bedeutung für die Sprachweitergabe“. In: Gasner, Lisa et al. (Hg.). Sprache und Identität. Langue et identité. Lingua e identità. Lengua e identidad. Akten – Actes – Atti – Actas XII. Dies Romanicus Turiciensis (Zürich, 28.-29. September 2023). Online-Publikation der UZH.
Graf, Flurina & Cathomas, Claudia (2024): „Transmetter linguas minoritaras en famiglia – invistas en in project da retschertga davart la diaspora rumantscha“. In: Annalas da la societad Retorumantscha,137, 45-63.
Cathomas, Claudia, Flurina Graf. 2022. «Rätoromanisch erhalten in der Diaspora. Erste Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung». In: Rathgeb, C. (Hrsg.). Rumantsch è … Die rätoromanische Sprachkultur auf Wanderschaft. La cultura linguistica rumantscha sin viadi. La cultura linguistica romancia in viaggio. La culture linguistique rhéto-romane en itinérance. Kanton Graubünden.
Family Language Policy rätoromanischer Familien in der Deutschschweiz – Die Rolle von New Speaker:innen und Child Agency bei der Sprachweitergabe
Claudia Cathomas, Cordula Seger, Flurina Graf
Forschungsprojekt des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit (KFM), 2025-28.
Auf DE & FR
Über die Gesprächspartnerinnen
Claudia Cathomas
In Bern wohnende Bündnerin aus der Surselva sowie Soziolinguistin am Institut für Kulturforschung Graubünden. In einem Forschungsprojekt des KFM untersucht sie aktuell die Rolle der Kinder (Child agency) und der New speakers bei der Sprachweitergabe.
Viola Cadruvi
Rätoromanische Zürcherin sowie Autorin, Wissenschaftlerin und Kolumnistin. Sie schreibt auf Rumantsch Grischun und fördert das Rätoromanische in Zürich durch die Organisation von Veranstaltungen für Kinder.
Limes [‘li:mes] – Grenzen und Grenzüberschreitungen beim Sprachenlernen
Ringveranstaltung 2025-26
Rédaction CeDiLE : Carlos Pestana
Montage audio : Alban Osmani (Luminophone)
(Wieder-)entdecken Sie den Bericht von Emile Jenny und die Diskussion zu sprachlichen Minderheiten
